Radikalisierung und Rechtsterrorismus

Der Politikwissenschaftler Florian Hartleb beschreibt den Tätertyp des einsamen Wolfs im Rechtsterrorismus und macht auf die Radikalisierungsprozesse wie Vernetzungen im virtu­ellen Raum aufmerksam.

„Eine neue Art der Beklemmung hält in den westlichen Gesellschaften Einzug. Das 21. Jahr­hundert ist zwar schon jetzt das Jahrhundert des Individualterrorismus. Doch die neuartige Art der politisch motivierten Brutalität ist ‚hausgemacht‘ (homegrown) und nicht per se dem islamistischen Fundamentalismus zuzuordnen: Rechtsradikale töten, um eine Gesellschaft nach ihren Maßstäben zu errichten, ohne große Organisation im Hintergrund, sondern auto­nom und scheinbar unvorhersehbar. Dabei hätte sich die Weltöffentlichkeit dieser Gefahr spätestens seit dem 22. Juli 2011 bewusst sein müssen: Nach jahrelanger Planung ermor­dete der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik nach einer diabolischen Choreo­graphie 77 Menschen, darunter viele Jugendliche. [...] Genau fünf Jahre danach, am 22. Ju­li 2016, kehrte ein ähnliches Muster des Rechtsterrorismus in München wieder: die akribische, im virtuellen Raum forcierte Planung, die gezielte Opferauswahl, mit einer Glock 17 die gleiche Tatwaffe und der rassistische Bezug. [...] Die verringerten Kontaktschwellen im Netz begünstigen den Aufbau und die Pflege schwacher Bindungen, die je nach Bedarf aktiviert werden. Dennoch bieten sich neue Möglichkeiten. Virtuelle Gemeinschaften sind nicht unwirklich, sie folgen nur anderen Interaktionsmustern als physisch-reale Gemein­schaften.

Der Fanatismus von potentiellen Terroristen findet seine Projektionsfläche in der Möglichkeit einer 24-Stunden-Kommunikation und Interaktion – und das bequem von Zuhause aus. Die populärste Spieleplattform Steam wächst und wächst. Jüngsten Zahlen zufolge nutzen sie 33 Mil­li­onen Nutzer, davon bis zu 14 Millionen gleichzeitig.

Steam braucht für den Vertrieb keine Shops und nur wenige Angestellte. Durch die geringen Kosten für Produktivität etc. ist der Gewinn der Plattform entsprechend hoch. Er bewegt sich im Milliardenbereich. Zwar wird kontrovers beurteilt, ob der (exzessive) Gebrauch von gewalt­tätigen Computerspielen zu Aggressionen führt, doch dürfte die überwiegende Mehr­heit aus harmlosen Nutzern bestehen. Doch Steam steht in erster Linie für den Vertrieb so­ge­nannter Killerspiele. Als Klassiker gilt Counter-Strike, mittlerweile in der Version Counter-Strike Source. Dort tritt der Spieler als Teil einer von zwei Parteien in einem Netz­werkspiel (meist über das Internet) gegen ein gegnerisches Team an, um einen bestimmten Auftrag zu erfüllen. Das kann beispielsweise das Entschärfen einer Bombe sein. In diesem Beispiel wäre es Aufgabe der einen Partei (Terroristen), die Bombe zu platzieren und deren Detona­tion zu gewährleisten, und die der anderen Partei (Sondereinsatzkommando), die Bombe zu entschärfen. Um dieses Ziel zu erreichen, steht dem Spieler eine große Auswahl an Waffen zur Verfügung, mit deren Einsatz die Gegner ‚unschädlich‘ gemacht werden können.

Die Entwicklung schreitet rasant, scheinbar enthemmt wie ungehemmt voran. Die Spiele werden immer ausgefallener und gewaltverherrlichender. Im Mai 2018 bewarb Steam das Spiel Active-Shooter, in dem ein Schulmassaker simuliert wird. Der Spieler steckt in der Rolle eines Spezialkommando-Mitglieds, das in einer Schule nach einem Schützen sucht. Dann wird die Perspektive des wild um sich schießenden Schützen eingenommen. Der Werbeclip endet mit Bildern von auf dem Boden liegenden Leichen. Die Zahl der getöteten Zivilisten wird dabei mitgezählt.

Brisant ist das auch deshalb, weil erst im März 2018 bekannt wurde, dass es auf Steam 173 Nutzer-Gruppen gibt, die frank und frei School-Shootings preisen. Nach immensen Protesten hat man die realitätsnahe Simulation nun offenbar zurückgezogen. Heißen muss das gleich­wohl nicht viel. Hatred, eine andere Simulation von Massenmorden an unschuldigen Zivi­lis­ten, wurde erst entfernt und dann wieder eingestellt. Von daher bestehen erhebliche Zweifel, ob die Spielindustrie trotz der zahlreichen School-Shootings eine Kehrtwendung vollziehen will und kann. Die Kommerzinteressen stehen über lästige ethische Debatten, die angesichts der zahlreichen Vorfälle gerade in den USA eigentlich notwendig wären. Man könnte sogar vermuten, dass die ohnehin einsetzende Glorifizierung von School-Shootings in der ‚Commu­nity‘ dazu genutzt wird, die Gewinnmargen nach oben zu treiben.

Auf Steam tummeln sich schwarze Schafe, die offenbar unbehelligt halböffentliche extremis­tische Foren gründen, Voice- und Textnachrichten verschicken und unter dem Radar von Sicherheitsbehörden kommunizieren und Gewaltphantasien teilen. Mittlerweile lässt sich nicht mehr von einem Irrläufer sprechen, da sich hier gezielt Gleichgesinnte zusammen­finden und vernetzen.

Es wird klar: Nicht die Gewaltspiele sind das eigentliche Problem, sondern die sozialen Plattformen, in denen sich im Jahr 2017 Communities wie „Kill the Jews“ oder „Neo Nazi Fascist Party“ als öffentliche oder private Gruppen finden ließen. Die Zeitung konnte tau­sende von Accounts und Nutzergruppen identifizieren, in denen sich einzelne Personen als Nationalsozialisten, School-Shooters oder Rassisten ausgeben.

Gerade der beliebte Einsatz von Satire soll die wahren Absichten verschleiern, die Grenzen zwischen geschmacklosen Spaß und bitteren Ernst bis ins Unkenntliche verwischen. Das drastisch klingende Urteil: Einschlägige NS-Symbolik ist ‚normalisiert‘.

Ähnliches gilt für islamfeindliche Blogs, die als mittelbare oder unmittelbare Reaktion nach dem 11. September 2011 und dem Ausbreiten des islamistischen Terrorismus entstanden sind. Auf Online-Foren wie ‚Politically Incorrect‘ in Deutschland oder ‚EuropeNews‘ in Däne­mark fingen Blogger an, sich über islamkritische Texte auszutauschen und aktiv zu werden. Sie teilten Medienberichte, die als Beweis für eine angebliche Islamisierung dienen sollten: etwa Artikel über Betreiber öffentlicher Kantinen, die aus ‚falsch verstandener‘ Rücksicht auf Muslime Schweinefleisch von der Speisekarte genommen hätten.

Schlimmer als die offenen Blogs sind aber längst die verborgenen Parallelwelten geworden, in denen wie auf Steam Gruppen in eigener Sprache kommunizieren oder im Darknet opera­tive Geschäfte wie etwa Waffenkäufe laufen. Die Existenz dieser Foren zu verharmlosen oder die Bekämpfung mit Verweis auf rechtliche Probleme gar nicht erst zu versuchen, wird das Problem der Einsamen Wölfe nur noch verschärfen.

Es gehört zum virtuellen Hausrecht von Twitter, Facebook und Co., einzelne User auszu­schließen, sei es übergangsweise oder dauerhaft. Das akzeptiert jeder Nutzer in dem Mo­ment, in dem er seinen Account erstellt hat. Offenbar auf Druck der Behörden ist Facebook nach eigenen Angaben zuletzt entschiedener gegen extremistische Beiträge vorgegangen. Die Europäische Union hatte zuletzt gefordert, Facebook und seine Konkurrenten müssten solche Inhalte schneller entfernen. Facebook verwendet eine automatisierte Software, um derartige Posts ausfindig zu machen. Zudem veröffentlichte das Unternehmen erstmals eine Definition des Begriffs ‚Terrorismus‘, die jedoch Einzeltäter ausschließt und sich auf Gruppen bezieht. Zuvor war nicht bekannt, nach welchen Kriterien Einträge als extremistisch einge­stuft werden. Im April 2018 hieß es in einer Stellungnahme: ‚Wiewohl die Herausforderung des Online-Terrorismus nicht neu ist, hat sie doch ein beträchtliches Wachstum erreicht, da digitale Plattformen zentral in unserem Leben geworden sind. Bei Facebook erkennen wir die Bedeutung, dass Menschen sicher sind, weshalb wir Technologie sowie unser Counter­terrorismus-Team einsetzen, um das sicherzustellen.‘[1]

Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander. Facebook-Gründer Mark Zucker­berg führt die PR-Beteuerungen seines eigenen Unternehmens ad absurdum. In einem Inter­view vom Juli 2018 spricht er sich dagegen aus, Facebook-Beiträge zu sperren, in denen der Holocaust geleugnet wird. Er selbst sei Jude und finde es zutiefst beleidigend, wenn Menschen anzweifeln, dass es den Holocaust gegeben habe: ‚Aber am Ende glaube ich nicht, dass unsere Plattform das herunternehmen sollte, weil ich denke, dass es Dinge gibt, bei denen verschiedene Menschen falsch liegen. Ich glaube nicht, dass sie absichtlich falsch liegen.‘ [...]

Ein grundsätzliches Problem bleibt: Steam hat kaum Meldemechanismen. Man kann nur Gruppen oder Nutzer melden, keine Inhalte oder konkreten Gewaltdrohungen. [...]

In Deutschland ist Anfang 2018 das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in Kraft getreten. Es schreibt vor, dass Online-Plattformen wie Facebook klar strafbare Inhalte binnen 24 Stunden nach einem Hinweis löschen müssen. In weniger eindeutigen Fällen haben sie eine Woche Zeit. Bei Verstößen drohen Strafen von bis zu 50 Millionen Euro. Wenn die Netzwerke nicht schnell genug reagieren, können sich die User beim Bundesamt für Justiz beschweren. Computer- und Videospiele fallen aber nicht unter das Gesetz, weshalb die Wirksamkeit begrenzt sein dürfte. Offenbar hat es die Lobby der Spielindustrie geschafft, dass Online-Spiele von diesem ersten Gesetzesentwurf ausgenommen sind.[2] Der Fokus auf Facebook und Twitter wirkt angesichts der aktuellen Bedrohungslage ohnehin antiquiert.“


[1] Facebook. „Hard Questions: How Effective is Technology in Keeping Terrorists off Facebook?“, 23. April 2018, https://about.fb.com/news/2018/04/keeping-terrorists-off-facebook/, zuletzt geprüft am 17. Juni 2022.

[2] Vgl. Christina Brause. „Die wollen doch nur spielen“, in: Die Welt, 6. Februar 2018, https://www.welt.de/print/
welt_kompakt/webwelt/article173237989/Die-wollen-doch-nur-spielen.html
, zuletzt geprüft am 17. Juni 2022

 

Arbeitsauftrag

  1. Lest den Text gemeinsam in der Klasse und analysiert im Anschluss, worin die neue Herausforderung besteht.
  2. Führt in Partner*innenarbeit eine Debatte darüber, ob und wie diese Form des Terrorismus bekämpft werden kann.

Quelle

Florian Hartleb. Einsame Wölfe: Der neue Terrorismus rechter Tätertypen, Hamburg: Hoffmann und Campe, 2018, 9 ff.