Zbigniew Czarnuch über seinen Freund Icek

 

Zbigniew Czarnuch

Zbigniew Czarnuch (geb. 18. März 1930, gest. 22. September 2024) war ein Histo­riker, Päda­goge, Aktivist. Als Befürworter der deutsch-polnischen Annährung hat er die Gründung des deutsch-polnischen Vereins „Educatio Pro Europa Viadrina“ initiiert.

Zbigniew Czarnuch erzählt über seine Kindheit bei Wieluń (Polen) und seinen besten Freund, der in einer jüdischen Familie aufwuchs:

„Ich wurde (1930) in Lututów bei Wieluń geboren. In der Grenzregion zwischen Polen und Deutschland. Durchzogen ist das Land hier von Prosna, Bartsch und Warthe.[1] Die ersten elf Lebensjahre verbrachte ich in meiner Heimatstadt, in der etwa 70 % der Ein­wohner Juden waren.

Meine Eltern wohnten im Haus des Gemeinde­amtes. Das Gebäude gehörte einem wohlhabenden jüdi­schen Kaufmann, der in der Wohnung uns ge­gen­über wohnte. In armseligen Hinterhäusern wohn­ten zwar an Kinderscharen reiche, jedoch ein äußerst beschei­de­nes Leben führende polnische und jüdische Fami­lien.

Soweit ich mich erinnern kann, war ich der Anführer der Bande unseres Hofs, der unter anderem auch Icek angehörte, der im gleichen Alter wie ich auch war. Er entstammte einer frommen chassidischen Familie, trug also ebenso wie andere Jungen dieser Glaubens­richtung und auch erwachsene Männer unter dem oder manchmal anstelle des Hemds einen Tallit: das ist so eine Art Weste aus weißem Tuch mit schwarzen Streifen und langen weißen Fäden an den Rändern, die man Zizijot nennt, die er oberhalb der kurzen, bis zum Knie reichenden einknöpfbaren Hose trug. Sein Haar mit den typischen Schläfenlocken bedeckte er mit einem Käppchen,[2] über dem er, wenn es kälter wurde, eine schwarze Mütze mit einem kleinen Dach trug. An kälteren Tagen zog er einen schwarzen Kittel[3] über, der an einen langen Mantel erinnerte.

Er führte mich in die Geheimnisse ihrer religiösen Ver- und Gebote ein, die für mich als Christ exotisch anmuteten. Ich erinnere mich noch heute sehr lebhaft an eine Szene, die sich am Brunnen auf unserem Hof abgespielt hatte. Icek wollte sich nämlich die Hände waschen, aber es war Samstag, ihr heiliger Feiertag, und er durfte nicht einmal die Kurbel drehen, um den Wassereimer an der Kette hochzuholen, worum er eben mich dann bat. Er erklärte mir, dass es an diesem Tag verboten war, irgendwelche Tätigkeiten auszuführen, sogar ein Stück Papier abzureißen, ein Stöckchen in zwei Hälften zu brechen, Brot zu schneiden, eine Kerze anzuzünden oder den Docht abzuschneiden, und auch zu schreiben oder überhaupt Hausauf­gaben zu erledigen. Das erklärte mir zugleich den Abzählreim, den wir aufsagten, wenn wir die Mannschaften zu unseren Spielen auf dem Hof wählten:

Kleine Jüdin, komm‘ zum Licht,

weil Schabbat ist, darf ich‘s nicht,

Mama würd‘ mich schlagen,

würd‘ ich am Schabbat zu laufen wagen.

Zu Ostern, an ihrem Pessach-Fest, brachte uns Icek mit seinen anderen jüdischen Freunden immer Matze mit, ein trockener, dünner und ungesäuerter Brotfladen den sie an diesem Tag zu sich nehmen durften und mit dem wir uns dann so satt aßen.

Die frommen älteren Chassidim errichteten auf dem Hof Laubhütten, oft in Gestalt fensterloser kleiner Lauben oder Sommerhäuschen mit einem Tisch und zwei Bänken an den Seiten und einem offenen Dach. An Sukkot, dem Laubhüttenfest, das an den Auszug der Vorfahren aus Ägypten erinnern soll, zogen sie den Tallit über den Kopf, legten den Psalter auf den Tisch und stimmten über viele Stunden hinweg laute Gebete an, in denen sie Gott für die Gaben des Lebens dankten und dabei Weidenruten hin und her schwenkten. An diesem Tage war der gesamte Innenhof von religiösen Gesängen erfüllt, denen dann meine Mama – und auch andere Bewohner des Hauses – von unserem Fenster im ersten Stock aus interessiert lauschten.

Ein anderes Mal erklangen im Hof Stimmen fröhlicher Gäste, begleitet von den lebhaften Melodien der Klezmer.[4] Ich befand mich unter den dem Fest beiwohnenden Goi, wie die Orthodoxen ihre Andersgläubigen bezeichneten und beobachtete aufmerksam die Hochzeits­zeremonie, als die Jungvermählten unter den Traubaldachin traten, der Chuppa genannt wird und ihr neues Heim symbolisiert. Auch an den Brauch, Gläser zu zertreten, nachdem alle zum Abschluss der Zeremonie ihre Glückwünsche ausgesprochen hatten, kann ich mich erinnern. Es sollte dem jungen Paar Glück bringen.

Dass ich mich so genau an diese Szene erinnern kann, hat wohl auch damit zu tun, dass immer, wenn wir am nächsten Tag auf dem Hof Feuerball spielen wollten, wir erst mal die Scherben zusammenfegen mussten.

Nachbar uns gegenüber war – wie bereits eingangs beschrieben – die Familie des Hauseigentümers. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, hießen sie Waksman. So muss es wohl auch gewesen sein, weil ich mich wegen dieser Zeilen in einem Schlager von damals, den meine Mama laut vernehmbar mitsang, daran erinnern kann:

Wie ein Fisch ohne Wasser
Herr Waksman ohne Bart,
so schwer kann man ohne Liebe leben.

Am Türrahmen zur Wohnung der Familie Waksman war auf Kopfhöhe eine Mesusa ange­bracht: das ist eine kleine hölzerne Schriftkapsel, in der ein Stück Pergament mit zwei Textfragmenten aus dem Pentateuch (der Tora) aufbewahrt wird. Die Chassidim mussten, wenn sie ihre Wohnung betraten, diese Mesusa mit den Fingern berühren, um ihre Verehrung Gottes zum Ausdruck zu bringen, wie ebenso des Wunsches, er möge diesem Haus Gnade zuteilwerden lassen.

Von Zeit zu Zeit war ich bei ihnen drüben in der Wohnung, wenn ich mal wieder am Essen meiner Mama herummäkelte und ihr meine Abneigung mit einem kurzem Hab‘ keinen Hunger zu verstehen gab. Wie sich später herausstellte, hatten sich Frau Waksman und Mama aber abgesprochen und mich überlistet, indem mir meine Nachbarin Mamas Gerichte als die ihren anbot. Schließlich waren die viel schmackhafter als Mamas Mittagessen.

Frau Waksman befolgte die Kaschrut (jüdische Speisegesetze), die u.a. festlegt, was man womit und worauf essen darf, und was streng verboten ist. Einmal kam sie zu meiner Mama herüber und bot an, ihr eine zum Braten fertige Hälfte einer Gans zu verkaufen. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass sie im Magen der Gans einen Nagel oder Draht gefunden hatte, was bei den Chassidim bedeutete, dass sie nicht mehr gegessen werden durfte.

Sie war eine hervorragende Köchin. So gab sie uns einmal ihre Spezialität, genannt gęsi pipek zu kosten, was dazu führte, dass dieses Gericht aus Gänsemagen nun ab und zu auch in unserer Küche zubereitet wurde. Mein ganzes Leben lang werde ich den himmlischen Genuss von Frau Waksmanns Meisterstück nicht vergessen – in Form von Gänsehals: einer Art Wurst, deren leckere Füllung in einen Gänsehals gestopft und dann in der Pfanne angebraten wurde, so dass es zudem noch köstlich knusperte während des Essens.

Diese bis heute lebhaften Erinnerungen an das kulinarische Himmelreich meiner Kindheit verschmolzen mit jener Erinnerung, wie man damals Speiseeis zubereitete. Im Obergeschoss des Hauses der Waksmans befand sich auf der einen Seite der Hofeinfahrt das Gemeindeamt und auf der anderen Seite ein Kolonialwarenladen, oder wie man einst auch sagte: szwarc mydło i powidło (Kram, Seife und Pflaumenmus), den die Mama von Icek betrieb. Im Sommer führte sie auch Eis im Sortiment. Sie bereitete es in einer Blechbüchse zu, die in einen randvoll mit zerstoßenem Eis befüllten Eimer eingetaucht war. Um die aus Sahne, Eiern und verschie­denen anderen Zutaten bestehende Masse zu einer Konsistenz zu verrühren, die sie Eis zum Schlecken (wie wir das nannten) werden ließ, musste man eine oberhalb des Deckels befesti­gte Kurbel schnell nach rechts und links drehen, bis es dann soweit war. Zum Drehen haben wir uns in einer Schlange aufgestellt, um zum Abschluss des Werks eine Portion leckeres süßes Sahneeis zu erhalten.

Wenn bei uns in der Familie die Frage Was gibt’s Neues? gestellt wurde, hatten wir uns ange­wöhnt, mit der Redewendung englisches Gewürz ist billiger geworden, Eier teurer zu antwor­ten. Der Spruch festigte die Erinnerung an Johejwyt. Die temperamentvolle, energische und tüchtige heranwachsende Tochter der Waksmans kam fast jeden Tag zu uns herüber und berichtete, was es Neues in der Stadt gab. Dazu gehörten auch die vom Markt diktierten Preise. Englisches Gewürz wurden Pimentkörner genannt. Meiner Mama bot sie „Amerika­nische Purzelbäume“ zum Kauf an, wie man bei uns extravagante bunte Kleider, Blusen und andere wunderliche Waren nannte, die den hiesigen Juden von ihren Verwandten aus beiden Amerikas in Paketen geschickt wurden.

Die gegen die sie umgebende Welt aufbegehrend Johejwyt war zugleich die größte Sorge ihrer frommen Eltern. Mit dem Chassidismus hatte sie gebrochen und war der Jugendbewegung der in Lututów vertretenen jüdisch-linkssozialistischen Partei „Bund“ beigetreten. Sie sprach sich gegen die Ziele der Zionisten, also vor allem der Ausreise der polnischen Juden nach Paläs­tina, aus und warb für ihren Verbleib, als kulturell autonome Minderheit mit einem weltlichen Schulwesen und der Förderung ihrer Kultur in der jiddischen Sprache. Mit meinem Vater führte Johejwyt heftige politische Diskurse.

Mein Vater war Sekretär der Gemeinde Lututów; die örtliche Kehillah, also die jüdische Ge­mein­de, beschäftigte ihn als Buchhalter. Er war voller Anerkennung für Unternehmergeist und Tüchtigkeit der Vertreter dieses Volks und erzählte daher oft folgende Anekdote:

Im Wirtshaus trafen sich bei Moische ein paar Bauern aus der Gegend zu einer Schnapsrunde, woraufhin sich einer von ihnen an den Wirt wendet und sagt:

  • Ihr Juden, quasi so ein gelehrtes Volk, aber habt euch von Moses vierzig Jahre durch die Wüste führen lassen?
  • Hmm, antworte der Wirt, wenn es Polen gewesen wären, würden sie noch immer in der Wüste wandern.[…]

Im Spiegel dieses alltäglichen, nachbarschaftliche Miteinanders beider Kulturen spielte er sich denn ab, jener Prozess der gegenseitigen Durchdringung, des wechselseitigen aufeinander Einwirkens, der zu einem maßgeblichen, mich prägenden Bestandteil meines Erfahrungs­schatzes hatte werden sollen. Jene heiteren Jahre der unbeschwerten Kindheit mit dem Hof als Zentrum der Welt setzten den ersten Impuls meiner geistigen Verbundenheit mit allem, was jüdisch war. Ein Impuls, beruhend auf gemeinsamen Erlebnissen und den damit verbundenen Gefühlen sowie gestützt von Wohlwollen und Respekt meiner Eltern gegenüber der Welt des Judentums.“

 

[1] Anmerkung von der Autorin: Die Städte Lututów und Wieluń liegen im sogenannten Weluner Land (polnisch Ziemia wieluńska) im Südwesten Polens, zwischen den Großstädten Lotsch, Tschenstochau, Breslau und Posen. Das Weluner Land wird von den Flüssen Prosna, Bartsch und Warthe begrenzt. Vor dem zweiten Weltkrieg lag es direkt in der Grenzregion zu Deutschland.

[2] Anmerkung von der Didaktikerin: Gemeint ist hier eine Kippa.

[3] Anmerkung von der Didaktikerin: Hier ist ein Khalat, also eine langärmlige Robe gemeint.

[4] Anmerkung von der Didaktikerin: Klezmer ist eine Festmusik.

 

Quelle

Grażyna Aloksa, Catherine Griefenow-Mewis und Mirosława Jach. Kto opowie nasze losy? / Wer erzählt von unseren Schicksalen? Gorzów Wielkopolski: Polsko-Niemieckie Stowarzyszenie „Educatio Pro Europa Viadrina” / Deutsch-Polnischer Verein „Educatio Pro Europa Viadrina”, 2021, S. 10-14.

Abbildung:

Grażyna Aloksa, Catherine Griefenow-Mewis und Mirosława Jach (2021): Kto opowie nasze losy? / Wer erzählt von unseren Schicksalen?, Gorzów Wielkopolski: Polsko-Niemieckie Stowarzyszenie „Educatio Pro Europa Viadrina” / Deutsch-Polnischer Verein „Educatio Pro Europa Viadrina”, S. 8.

Kurzbiografie Zgibniew Czarnuch:

Popieliński, Paweł. „Samozwańcze konsulaty. Rzecz o emocjonalnym stosunku Niemców i Polaków do tego samego skrawka ziemi“, in: Zbigniew Czarnuch (Hg.), Deutsch-Polnisches Jahrbuch, 23 (2015), S. 224–228, https://czasopisma.isppan.waw.pl/rpn/article/view/811/637, zuletzt geprüft am 28. Februar 2025.