1: 1781 äußerte sich der hohe preußische Beamte Christian Wilhelm Dohm (1751–1820) über die Rolle des Staates bei der Erziehung der Juden:
„Sechstens müsste es ein besondres angelegnes Geschäft einer weisen Regierung sein, für die sittliche Bildung und Aufklärung der Juden zu sorgen, und dadurch wenigstens die kommenden Geschlechter einer mildern Behandlung und des Genusses aller Vortheile der Gesellschaft empfänglicher zu machen. [Der Staat solle dafür sorgen], daß neben den geheiligten Lehrern [ihrer] Väter auch der Verstand der Juden durch das helle Licht der Vernunft, der Erkenntniß der Natur und ihres grossen Urhebers, erleuchtet, und sein Herz durch die Grundsätze der Ordnung, Rechtschaffenheit, der Liebe aller Menschen und der grossen Gesellschaft in der er lebt, erwärmet würde; er könnte dafür sorgen, daß auch der Jude früh zu den Wissenschaften, die sein künftiger Beruf mehr oder weniger fordert, angeleitet würde.“
2: Ebenfalls 1781 dekretierte Kaiser Joseph II. (1741–1790) die Einrichtung von staatlichen Schulen für Juden im Habsburgerreich:
„Die Ein- und Aufsicht aber über die jüdischen Schulen, in welchen die Normallehrart genau zu beobachten ist, gebührt der bestehenden, christlichen Schuldirektion, welche den zweimaligen Winter- und Sommerprüfungen der jüdischen Normalschüler beizuwohnen, dann die christlichen Normalschul- und Lesebücher für ihre Schulen mit Vernehmung und Gutheißen der Juden nach der philosophischen Moral und mit Hinweglassung alles ihrem Glauben anstößigen verfassen zu lassen hat. Hingegen soll die in den christlichen Normalschulen übliche Rechtschreibung, Sprachlehre, Erdbeschreibung, Geschichte und Meßkunst, auch die gewöhnlichen Normalschulbücher für die jüdischen Schüler sein. Jene Juden, welche der Gelegenheit, ihre Kinder in die jüdischen Schulen zu schicken, beraubt sind, sollen angehalten werden, ihre Kinder in die christlichen Schulen zu schicken. Jedoch sollen sich die christlichen Lehrer von aller Einmengung ihrer Religion hüten, damit nicht etwa dadurch die jüdischen Aeltern ihre Kinder den Schulen entziehen.“
Normallehrart: Der Begriff ist von dem Wort „Norm“ abgeleitet und bedeutet, dass der Unterricht nach der allgemein gültigen Norm, also den für alle Schulen im Habsburgerreich geltenden Vorschriften stattzufinden hat. Daher auch „Normalschule“, „Normalschüler“ usw.
Arbeitsauftrag
Zu 1: Erläutere, welche Verbindung Christian Wilhelm Dohm zwischen Bildung und Aufklärung der Juden einerseits und ihrer rechtlichen Lage andererseits herstellt? Welche Rolle sollte der Staat in dieser Frage spielen? Könnt Ihr Euch denken, welchen Nutzen der Staat aus der Erziehung der Juden ziehen wollte?
Zu 2: Schildere, worauf die Beamten und Lehrer bei der Einrichtung der Schulen im Habsburgerreich und beim Unterricht Rücksicht nehmen sollten? Versucht, Eure Antwort zu begründen. Vergleich: Erläutere, welche Kenntnisse Juden nach Auffassung Dohms und Josephs II. erwerben sollten?
Zusatzaufgabe 1 (optional): Der Staat und seine aufgeklärten Beamten verlangten, dass jüdische Kinder in neuen Schulen die deutsche Sprache und aufgeklärtes Wissen erwerben sollten; jüdische Aufklärer wie Wessely begrüßten diese Initiativen. Aber gingen denn jüdische Jungen und Mädchen vor dieser Zeit gar nicht zur Schule, lernten sie denn gar nichts? Stellt Vermutungen auf!
Zusatzaufgabe 2 (optional): Informiert Euch über die rechtliche Lage der Juden um 1781 in Preußen und im Habsburgerreich. Konnte die aufgeklärte Bildung, die jüdische Kinder in den Schulen erwerben sollten, ihnen in der Gesellschaft dieser Zeit von Nutzen sein?
Quelle
Christian Wilhelm Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin u. Stettin 1781, S. 120f.
Hofdekret vom 19. Oktober 1781, in: A.F. Pribram (Hrsg.): Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien. Erste Abteilung, allgemeiner Teil 1526–1847 (1849), Erster Band, Wien und Leipzig 1918, S. 513f.