„DER ISLAM IN DEN DEUTSCHEN MEDIEN” VON SABINE SCHIFFER

10.5.2005
Medienschaffende sollten auf verantwortungsbewusste Berichterstattung über den Islam achten. Medienkompetenz ist für die Nutzer wiederum eine Schlüsselqualifikation, die sie zu verantwortlichen Bürgern in einer funktionierenden Demokratie macht.

Einleitung


[…] Medien sind unsere wichtigsten Informationsquellen, vor allem in Bezug auf Themen, zu denen uns der Zugang fehlt. Während sie es uns ermöglichen, an Dingen teilzunehmen, die wir nicht direkt erleben, strukturieren sie gleichzeitig die Wahrnehmung dieser Dinge […]. Eine aktive Reflexion darüber muss vermehrt stattfinden, damit keine verzerrten Vorstellungen von "der Welt" entstehen. […]

1. Zeigen und Ausblenden

Die Wahl eines bestimmten Zeichens - Wort oder Bild - entscheidet darüber, auf welchen Wirklichkeitsausschnitt die Aufmerksamkeit gelenkt wird - und was ausgeblendet bleibt. Mensch und Medien konstruieren unter Verwendung von Zeichen ständig Wirklichkeiten, die nicht dem Erlebten entsprechen - auch wenn nur "Fakten" berichtet werden. Da wir uns alle an dem orientieren, was wir schon zu "wissen" meinen, ergibt sich unbemerkt eine Wiederholung derselben Ausschnitte […]. Auf diese Weise entstehen Stereotype, die […] für die ganze Wahrheit gehalten werden. […]
1,2 Milliarden Individuen auf der Welt sind Muslime. Sie sind in verschiedenen Ländern und Erdteilen zu Hause und leben in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. Differenzierte soziokulturelle Faktoren machen deutlich, dass es innerhalb der muslimischen Bevölkerungen eine Vielzahl von verschiedenartigen Lebensrealitäten gibt. Dennoch lässt sich feststellen, dass in deutschen Medien "die" Muslime zunehmend als homogene Masse wahrgenommen werden, die bedrohlich oder zumindest rückständig erscheint.

[…] Ausgeblendet bleibt meist das Normale, Unspektakuläre, denn only bad news are good news, und wer würde schon ein unspektakuläres Medium kaufen? Dinge, die wir in Bezug auf den Islam auf Grund unserer kulturspezifisch eingeschränkten Sicht übersehen, sind etwa der hohe Anteil weiblicher Professoren in Ägypten und der Türkei (ca. 30 Prozent gegenüber zehn Prozent in Deutschland), die Diskussion um eine Männerquote an iranischen Universitäten, da dort die weiblichen Studierenden in der Überzahl sind, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Frauen erst nach der Islamischen Revolution dort das Wahlrecht erhielten. Wie sehr Zeigen und Ausblenden unsere Wahrnehmung trüben, belegt auch das folgende Beispiel: Immer wieder können wir lesen, dass muslimische Mädchen nur die Hälfte dessen erben, was ihre Brüder erben. Das stimmt, es bleibt jedoch ausgeblendet, dass muslimische Männer damit traditionell die Verpflichtung übernehmen, für ihre unverheirateten Schwestern und andere Verwandte zu sorgen, während Frauen dieses Geld zur eigenen Verfügung erhalten. In den modernen islamischen Gesellschaften spielt diese Aufteilung inzwischen keine so große Rolle mehr, da die Grundsituation familiären Zusammenlebens sich gewandelt hat. In den betroffenen Ländern passen sich die Gesetze der Situation an. Mit einem einzigen Satz kann jedenfalls die Schilderung nie komplett sein.

2. Symbole statt Information

Die Beispiele aus dem Umfeld "der" muslimischen Frau dienen hier ebenso der plakativen Illustration, wie dies umgekehrt in Bezug auf die Unterdrückung der Musliminnen geschieht. Allzu häufig dienen Teilwahrheiten aus dem Leben muslimischer Frauen als Beleg für die Unterdrückungsmechanismen "des" Islams. Häufig muss die Situation der Musliminnen für die Beurteilung des Islams insgesamt herhalten, etwa wenn das Thema allein durch das Zeigen einer Kopftuchträgerin repräsentiert wird. […]

Was sagt das Tragen eines Kopftuchs über das Denken der Menschen aus, die es tragen? Die Konzentration auf ein Kleidungsstück hat viele Ursachen, die unter anderem in unserer Kultur begründet liegen. […] Als Folge der Industrialisierung und der damit verbundenen Trennung der Sphären (Arbeitswelt, privater Bereich usw.) entwickelte sich in der westlichen Welt die Vorstellung einer Öffentlichkeit. Die Möglichkeit, sich in diesem Außenraum frei zu bewegen, bedeutet, Macht zu haben. Deshalb ging die Emanzipation der Frau in Europa mit der Eroberung dieses Bereichs einher. Damit waren Frauen in der Öffentlichkeit visuell wahrnehmbar und mächtiger als solche, die allein Hausarbeit oder andere, nicht so leicht wahrnehmbare Tätigkeiten verrichteten. "Heim an den Herd" wurde zur Metapher für Rückschritt. Und "arbeiten" bedeutet inzwischen fast ausschließlich "außer Haus arbeiten" (in einem Beruf, der immer höher bewertet wird als Hausarbeit). […]

[…] deshalb widerspricht eine wenig sichtbare, verschleierte Frau hiesigen Emanzipationsvorstellungen. Und tatsächlich gibt es ja […] extremistische[…] Gruppen, welche die Frauenkleidung ebenfalls zum Symbol stilisieren. Zu einfach macht man es sich jedoch, wenn Freiheit und Emanzipation mit Kleidungsfreiheit gleichgesetzt werden. Übrigens handelt es sich oft nicht um wirkliche Kleidungsfreiheit, wenn gefordert wird, bestimmte Kleidungsstücke nicht zu tragen. […]

3. Willkürliche Verknüpfungen

Seit dem 11. September 2001 ist eine Zunahme an expliziten Schuldzuweisungen gegenüber Muslimen für verschiedenste Untaten auszumachen. […]

Eine effektive Technik der Verknüpfung stellt der so genannte Sinn-Induktionsschnitt dar, mit dem Bilder unterschiedlichen Inhalts zueinander in Beziehung gesetzt werden. Peter Scholl-Latour hat diese Technik beispielsweise in der Fernsehreportage zu seinem Buch "Das Schlachtfeld der Zukunft" (1996) angewandt, in der es um die Republiken im Süden der ehemaligen Sowjetunion geht und in der es unter anderem zu einer "Explosion in einem Lager russischer Soldaten in Kaspisk" kommt. Zu sehen sind Bilder von zerstörten Häusern und Räumfahrzeugen. Nach dem folgenden Schnitt fällt der Blick auf die Kuppel einer Moschee mit Halbmond, deren architektonische Herkunft im Folgenden erklärt wird. Kein Zusammenhang zwischen Moschee und Explosion? Explizit wird nicht begründet, warum hier implizit die Themen "Anschlag" und "Islam" verknüpft werden. Bis heute ist nicht bekannt, um welche Art von Explosion es sich gehandelt hat.

[…] Sinn-Induktion gibt es auch in den Printmedien. Dort können Bilder, Text und Bild oder verschiedene Textstücke zueinander montiert werden, ohne explizite Rechtfertigung und mit dem gleichen Suggestionspotenzial. […]


4. Wege zur Deeskalation

Wenn aber die meisten Vertreter und Vertreterinnen aus Politik und Medien nach bestem Wissen und Gewissen handeln, dann ist neben der Aufklärungsarbeit die Fähigkeit zur Selbstkritik nötig, um die geschilderten Mechanismen zu durchbrechen. Reine Faktennennung reicht als Mittel gegen Diskriminierung nicht aus. Effektives Handeln gegen eine konfrontative Entwicklung setzt die Erkenntnis der ungünstigen Wechselwirkung voraus, in der wir uns befinden, denn die Beobachtungen haben eine Wirkung auf alle beteiligten Gruppen.

[…] Nichtmuslime fühlen sich vom Islam bedroht, Muslime pauschal vom Westen […]. Auf beiden Seiten sind, unterschiedlich gewichtet, ähnliche Reaktionsmuster feststellbar: Resignation und Rückzug, Idealisierung und Radikalisierung. Viele resignieren in ihrem Bemühen um weitere Integration. Andere wählen aus der eigenen Geschichte nur noch die positiven Aspekte aus. Eine Radikalisierung Einzelner ist zu beobachten, vor allem unter Jugendlichen. Sie betrachten sich häufig als Ausführende dessen, was "alle" denken. […]

[…] Hier können Medien einen positiven Beitrag leisten, indem sie vermehrt die Integrationsarbeit vieler Moscheen […] thematisieren […]. Allein schon die breitere Veröffentlichung der vielen Erklärungen islamischer Verbände, die die Anschläge in New York und Madrid verurteilten, hätte integrierende Wirkung gehabt. Es ist schade, dass solche Möglichkeiten deeskalierender Berichterstattung bislang kaum genutzt werden.


[…] Aber "die" Medien gibt es ebenso wenig wie "den" Islam. Medien werden ebenso stereotyp wahrgenommen. Man sieht primär Dinge, die man erwartet. […]

[…] Für Mediennutzende wiederum ist Medienkompetenz eine Schlüsselqualifikation, die sie zu verantwortlichen Bürgern in einer funktionierenden Demokratie macht.

   

Begriffserklärungen:

Stereotyp: vereinfachendes, verallgemeinerndes, stereotypes Urteil, [ungerechtfertigtes] Vorurteil über sich oder andere oder eine Sache; festes, klischeehaftes Bild

Suggestion: geistig-psychische Beeinflussung eines Menschen [mit dem Ziel, ihn zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen]

Metapher: bildliche Übertragung (z. B. der kreative Kopf des Projekts)

Idealisierung/idealisieren: einem Ideal annähern, jemanden oder etwas vollkommener sehen, als er oder es ist

Deeskalation: Entschärfung; stufenweise Verringerung oder Abschwächung

Arbeitsauftrag

Was sind die Kernaussagen der Autorin? Notiere stichwortartig die wichtigsten Aspekte des Unterkapitels, das Du bearbeitest:

 

 

1.Zeigen und Ausblenden:

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2.Symbole statt Information:

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3. Willkürliche Verknüpfungen:

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4.Wege zur Deeskalation

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Quelle

http://www.bpb.de/apuz/29060/der-islam-in-deutschen-medien?p=all, zuletzt abgerufen am 27.05.2014

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