* Zwar stammt das nachfolgende Märchen aus einem durch einen deutschen Verlag herausgegebenen Taschenbuch, allerdings wird darin kein ß verwendet, selbst dort nicht, wo nach den alten Rechtschreibregeln, die zum Zeitpunkt der Herausgabe im Jahr 1976 gültig war, eines verwendet werden würde.
„Der Ruhm von der Klugheit König Salomons drang selbst bis in das weite Land der Königin von Saba. Sie wollte sich nun selbst davon überzeugen und machte sich auf den Weg nach Jerusalem.
Als sie vor Salomon trat, sagte sie: ‚Ich will dir einige Rätsel aufgeben, und wenn du mir ihre Lösung nennst, dann werde auch ich wissen, dass das Gerücht, das ich von dir gehört habe, auf Wahrheit beruht.‘
Da sagte der König: ‚Nenne mir deine Rätsel, auf dass ich sie höre!
Und die Königin sprach:
‚Sag mir, wenn du es weisst,
wo ist das Wasser, das vom Himmel nicht fliesst,
auch strömt es nicht von Bergen und Felsen,
manchmal ist es süss wie Honig,
manchmal bitter wie Wermuth,
obwohl diese Tropfen von einer Quelle kommen?‘
Da antwortete Salomon:
‚Die Träne strömt nicht von den Himmelshöhen,
auch nicht von Felsspitzen ergiesst sie sich auf die Wange;
wenn das Menschenherz sich freut,
ist sie süss für die Augen,
aber bei Schmerz und Leid
ist sie siebenfach bitter.‘
Und die Königin sagte:
‚Meine Mutter, die mich liebte,
gab mir zwei nette Dinge.
Das eine wurde im Meere geboren,
das andere in den Tiefen der Erde und der Berge?‘
Und der König antwortete:
‚Die Perlenschnur auf deinem Hals
und der goldene Ring auf deinem Finger
werden deinem Herzen sagen,
dass ich des Rätsels Lösung gefunden habe.‘
Die Königin fragte weiter:
‚Sage mir, wenn du es weisst,
wer ist der Unglückliche, den man
noch vor seinem Tode in die Erde legt,
er ist nicht gestorben
und schon begräbt man ihn.
Er liegt, bekommt Kraft
und erwacht zum Leben.
Die ihn begraben hatten,
verdienen an ihm sehr viel?‘
Da antwortete Salomon:
‚Das Samenkorn in der Erde,
die Ähren und das Getreide
werden meiner Fragenden sagen,
dass ich das Rätsel gefunden habe.‘
Und wieder fragte die Königin:
‚Sag mir, du weiser König,
wer ist lauter und rein,
wenn er vom Himmel steigt,
nachher wird er zu Kot auf den Wegen.
Wenn er in seinen Geburtsort zurückkehrt,
ist er wieder rein und lauter wie früher.‘
Darauf antwortete der König:
‚Was ist weisser als Schnee,
wenn er vom Himmel kommt,
was ist schmutziger als
der Schneeschlamm auf den Wegen?
Die Wolken haben ihn geboren
und auf die Erde geschickt.
Scheint die Sonne,
kehrt er zu ihnen wieder zurück.‘
Nachdem König Salomon diese Rätsel gelöst hatte, sagte die Königin von Saba: ‚Ich habe dich vier Rätsel gefragt und du hast nicht nur die treffende Lösung gewusst, sondern auch deine Antworten in schöne Worte gekleidet. Erlaube mir daher, dass ich dir noch zwei Rätsel aufgebe, und nach deren Beantwortung will ich dich nicht mehr belästigen.‘
Da erwiderte ihr der König: ‚Frage nur nach Herzenslust, und ich will sie dir so beantworten, wie du es begehrst.‘
Und die Königin fragte das fünfte Rätsel. […]
‚Neun zogen aus,
und acht sind gekommen,
zwei ergiessen ihren Saft,
und einer labt sich daran?‘
Salomon antwortete:
‚Die Monate der Geburt sind vorüber,
und die Tage der Beschneidung sind gekommen,
und die beiden Brüste der Mutter
stillen das eine Kind.‘
Hierauf nannte die Königin von Saba ihr sechstes Rätsel:
‚Im Staube wird es geschaffen,
im Feuer brennt es,
es strahlt wie die Sonne,
und es ergiesst sich wie Wasser?!‘
Da antwortete Salomon:
‚Erdöl wird von der Erde genommen,
im Feuer glüht es
und strahlt wie die Sonne.‘
‚Und nun‘, sprach die Königin, ‚erlaube mir noch, dass ich dir kein Rätsel aufgebe, sondern eine Frage an dich stelle: Welche Seite des Menschen ist besser, die rechte oder die linke?‘
Da erwiderte Salomon: ‚Du glaubst wohl, dass die rechte wichtiger ist als die linke. Aber wir glauben nicht so. Die linke ist besser als die rechte, denn dort liegt das Herz, und auch die Frau fängt mit der linken Brust ihr Kind zu stillen an. Ebenso tragen die Könige den Herrscherstab in ihrer linken Hand. Deshalb legt man auch die Gebetriemen nicht an dem rechten, sondern an dem linken Arm an.‘
Als die Königin die Worte des Königs hörte und sah, dass vor ihm nichts verborgen ist, staunte sie sehr und sprach: ‚Jetzt weiss ich, dass es keinen klügeren und verständigeren Menschen auf der ganzen Welt gibt als dich. Es wurde mir nicht einmal die Hälfte davon erzählt.‘
Nach einem festlichen Abschiedsmahl zog die Königin tief beeindruckt in ihre Heimat zurück.“
Israel Zwi Kanner (Hg.). Jüdische Märchen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1976, S. 87-89.