"Der Glöckner von Notre Dame" (Gruppe 2)

Viele von Euch kennen die Liebesgeschichte des Glöckners von Notre-Dame und Esmeralda vielleicht durch den populären Zeichentrickfilm aus den Disney-Studios von 1996. Der Film basiert jedoch auf einem Roman des französischen Schriftstellers Victor Hugo und ist über 180 Jahre alt. Im Folgenden findet Ihr zwei Ausschnitte aus einer frühen deutschen Übersetzung des Romans. Lest sie aufmerksam und versucht herauszufinden, was passiert ist. Folgende Fragen sollen Euch dabei helfen:

  • Bei wem ist Esmeralda aufgewachsen?
  • Welches Bild wird von ihrer Familie gezeichnet?

In der ersten Szene sitzen im Roman mehrere Frauen zusammen, eine von ihnen erzählt die Geschichte des Mädchens Paquette, die sich achtzehn Jahre zuvor zugetragen hatte:

„‚Da nun Paquette keinen Liebhaber mehr haben konnte, so wendete sie ihre ganze Sehnsucht einem Kinde zu, und betete zu Gott Tag und Nacht darum; denn sie war trotz ihres lasterhaften Wandels eine gute Christin geblieben. Deßhalb erbarmte sich der Herr ihrer und schenkte ihr ein kleines Kind. Ihre Freude war unbegrenzt; sie übergoß das kleine Geschöpf mit einem Strom von Thränen, Liebkosungen und Küssen. […] Die kleine Agnes war aber auch ein schönes Kind und herausgeputzt wie eine Prinzessin. Unter Anderem hatte sie niedliche Schühchen, wie der König selbst sie nicht schöner haben kann. Ihre Mutter hatte sie selbst gestickt und allen Fleiß darauf verwendet. Es waren die niedlichsten rosenfarb'nen Schuhe, die man nur sehen kann, nicht größer als mein Daumen. Die junge Agnes hatte aber nicht nur einen niedlichen Fuß, sondern war auch das niedlichste Geschöpf von der Welt. Ihre Mutter wurde täglich toller in sie vernarrt, und konnte nicht aufhören, mit ihr zu spielen, zu kosen, sie aus- und anzukleiden, sie zu bewundern und zu loben.‘ ‚Die Geschichte ist recht artig,‘ sagte Gervaise, ‚aber wo bleiben die Zigeuner?‘ ‚Jetzt kommt es,‘ erwiederte Mahiette. ‚Eines Tages kamen Reiter von ganz besonderer Art zu Rheims an. Es waren Landstreicher und Diebe, die unter der Anführung ihres Herzogs und ihrer Grafen das Land durchzogen. Sie waren schwarzbraun, hatten krause Haare und trugen silberne Ringe in den Ohren. Die Weiber waren noch häßlicher als die Männer. Ihr Gesicht war noch schwärzer, und ihre gezöpften Haare hingen wie Roßschweife über den Rücken hinab. Ihre Kinder, wenn sie ihnen zwischen den Beinen herumkrochen, glichen wahren Affen. Und kurz, es war ein Heidenvolk. […] Sie blickten einem in die Hand und wahrsagten wunderbare Dinge. […] Es gingen auch allerlei Gerüchte über diese Leute, daß sie Kinder gestohlen und Menschenfleisch gegessen hätten. […] Die arme Chantefleurie war auch neugierig; sie hätte gerne gewußt, ob ihre schöne, kleine Agnes nicht eines Tages Kaiserin von Armenien oder etwas dieser Art werden würde. Sie trug daher das Kind zu den Zigeunern; diese bewunderten, liebkosten, küßten es mit ihren schwarzen Lippen und hatten besonders eine große Freude an seinen kleinen Händchen und Füßchen. Das Kind fürchtete sich vor den schwarzen Gesichtern und weinte. Um so vergnügter war die Mutter über das Glück, das die Zigeunerinnen ihrer Agnes prophezeit hatten: sie sollte eine der schönsten und tugendhaftesten Königinnen werden. Sie kehrte ganz stolz mit der kleinen Königin in ihre Hütte zurück. Am anderen Morgen schlich sie sich, als das Kind noch schlief, zu einer Nachbarin, um ihr zu erzählen, daß eines Tages ihre Agnes von dem König von England und dem Erzherzog von Aethiopien bei Tafel bedient werden solle. Als sie zurückkam, fand sie die Thüre offen und das Kind war verschwunden; einer seiner kleinen niedlichen Schuhe lag auf dem Boden. Sie stürzte aus dem Hause, rannte mit dem Kopf gegen die Mauer und jammerte laut: Mein Kind! Mein Kind! Wer hat mir mein Kind geraubt? Die Straße war einsam, ihre Hütte stand vereinzelt; Niemand konnte ihr etwas sagen. Sie durchrannte alle Straßen der Stadt, außer sich, rasend, schrecklich, wie ein Raubthier, das seine Jungen verloren hat. [...] Sie hielt die Vorübergehenden an und schrie: Mein Kind! Mein Kind! Mein schönes kleines Kind! […] Am Abend kehrte sie in ihre verlassene Hütte zurück. […] Die Chantefleurie hatte sich auf den kleinen Schuh geworfen, das Einzige, was ihr von ihrem Kinde übrig geblieben war. Sie blieb lange unbeweglich, stumm, ohne einen Lebenshauch, so daß man sie für todt hielt. Plötzlich zitterte sie am ganzen Körper, bedeckte ihre Reliquie mit wüthenden Küssen und brach in einen Strom von Thränen aus. Oh, mein Kind! Mein schönes kleines Kind! Wo bist du? rief sie jammervoll aus und rang die Hände. Wir weinten Alle mit, und ich muß noch weinen, wenn ich nur daran denke. Plötzlich erhob sie sich und lief durch die Gassen der Stadt unter dem gräßlichen Geschrei: In das Lager der Aegypter! In das Lager der Aegypter! Laßt uns die Zauberer verbrennen! Die Zigeuner waren über alle Berge, es war stockfinstere Nacht und man konnte sie nicht verfolgen.‘“

Der Roman geht weiter mit der komplizierten Geschichte des Glöckners und der Esmeralda. Aus dem Mädchen Paquette, auch Chantefleurie genannt, von dem erzählt wurde, ist eine religiöse Einsiedlerin geworden, eine „Klausnerin“. Am Ende des Romans soll Esmeralda hingerichtet werden. Auf der Flucht wird sie von der Klausnerin, die in eine abgeschlossenen Verließ lebt, festgehalten. Hier setzt der zweite Auszug ein:

„Esmeralda befand sich in den Händen der bösen, gehässigen Klausnerin. […] Sie hörte in ihren Ohren das heisere, unheilverkündende Lachen der Klausnerin: ‚Ha, ha, ha! Du wirst gehängt.‘ Halbtodt wendete sie sich gegen die Oeffnung und erblickte hinter dem Gitter das abgemagerte Gesicht der Klausnerin. ‚Was habe ich Dir gethan?‘ sagte sie mit sterbender Stimme. Die Klausnerin antwortete nicht und murmelte im singenden Tone einer Wahn­witzigen: ‚Tochter aus Aegyptenland! Tochter aus Aegyptenland! Tochter aus Aeghptenland!‘ Das unglückliche Mädchen ließ den Kopf auf die Brust sinken und ergab sich in ihr Schicksal, denn sie fühlte, daß sie es mit keinem menschlichen Wesen zu thun hatte. Plötzlich schrie die Klausnerin, als ob jetzt erst die Frage des Mädchens bis zu ihrem Gehirn gedrungen wäre: ‚Was Du mir gethan hast, fragst Du? Was Du mir gethan hast, Aegypterin? Höre! Ich hatte ein Kind, ich! siehst Du! Ein Kind hatte ich! ein Kind, sage ich Dir! Ein schönes kleines Kind! Oh, meine Agnes!‘ fuhr sie fort und küßte Etwas in der Dunkelheit, ‚Siehst Du, ägyptisches Mädchen! Hörst Du! Man hat mir mein Kind genommen, man hat mir mein Kind gestohlen, man hat mir mein Kind gefressen! Das hast Du mir gethan.‘ Die Aegypterin, wie ein Lamm in den Krallen des Wolfs, erwiederte: ‚Ach! ich war damals vielleicht noch nicht geboren!‘ ‚Doch! doch! Du warst geboren; Du warst bei dieser Bande. Sie wäre von Deinem Alter. Also! Es sind jetzt fünfzehn Jahre, daß ich hier bin; hörst Du! Fünfzehn Jahre bete ich zu Gott; fünfzehn Jahre kreuzige ich mein Fleisch; fünfzehn Jahre leide ich Pein. Hörst Du, Zigeunerin, fünfzehn Jahre! Es sind Zigeunerinnen, sage ich Dir, die mir mein Kind gestohlen haben. Hörst Du? Und haben es mit ihren Zähnen gefressen. Hast Du ein Herz im Leibe? Weißt Du, wie ein kleines Kind ist, wie es spielt, wie es an der Mutter Brust trinkt, wie es schläft? Es ist so unschuldig! Hörst Du! das, das hat man mir genommen, gestohlen, umgebracht, gefressen! Der liebe Gott im Himmel weiß es! Heute kommt die Reihe an Dich, ich will die Aegypterin fressen. Wäre dieses Eisengitter nicht, ich würde Dich mit meinen Zähnen zerfleischen. Das arme kleine Kind! Während es schlief, haben sie es genommen. Es ist aufgewacht und hat geschrieen, aber seine Mutter war nicht da. Ah! ihr Zigeunerinnen, ihr habt mein Kind gefressen! Heute frißt man das eurige.‘ Sie stieß ein heiseres Gelächter aus und grinzte mit den Zähnen. Der Tag fing an zu grauen. Der Galgen erschien immer deutlicher in der Mitte des Platzes. Von der andern Seite des Flusses hörte man Pferdegetrappel, das sich näherte. ‚Habe Mitleid,‘ flehte das Mädchen mit gefalteten Händen; ‚habe Mitleid! Sie kommen. Ich habe Dir ja nichts gethan. Soll ich so furchtbar unter Deinen Augen sterben? Das ist doch zu schrecklich. Habe Mitleid! Laß mich los! Gnade! Ich will nicht so sterben!‘ ‚Gib mir mein Kind wieder!‘ sagte die Klausnerin, ‚Gnade! Gnade!‘ ‚Gib mir mein Kind wieder!‘ ‚Laß mich los, um Gottes Barmherzigkeit willen!‘ ‚Gib mir mein Kind wieder!‘ Die Aegypterin sank erschöpft in die Kniee, ihr Blick war gebrochen, als ob sie schon im Grabe läge. ‚Ach!‘ stammelte sie, ‚Du suchst Dein Kind, und ich suche meine Eltern.‘ ‚Gib mir meine kleine Agnes wieder! Du weißt nicht, wo sie ist? […] Die Zigeunerinnen haben es genommen. Du siehst also wohl, daß Du sterben mußt. Wenn Deine Mutter, die Zigeunerin, kommt und Dich von mir fordert, so werde ich zu ihr sagen: Sieh hin, dort hängt sie am Galgen! Oder willst Du mir lieber mein Kind wieder geben? Weißt Du, wo mein kleines Kind ist? Es war sehr klein. Ich will Dir zeigen, wie klein es war. Hier ist ein Schuh, ein kleiner niedlicher Schuh, das ist Alles, was mir von ihm übrig blieb. Weißt Du, wo der gleiche Schuh ist? Wenn Du es weißt, so sage mir's, und ich will auf meinen Knieen dahin rutschen, wäre es auch am Ende der Welt.‘ Mit diesen Worten zeigte sie durch das Gitter der Aegypterin den kleinen gestickten Schuh. Es war schon hell genug, daß man dessen Form und Farbe unterscheiden konnte. ‚Zeige mir diesen Schuh!‘ sagte Esmeralda mit zitternder Stimme. ‚Gott! Gott!‘ Zugleich öffnete sie mit der Hand, die noch frei war, das kleine Säckchen, das sie am Halse trug. ‚Oeffne Dein Zaubersäckchen, Du Hexentochter!‘ murmelte die Klausnerin, Plötzlich zitterte sie an allen Gliedern und schrie mit einer Stimme, die tief aus ihrem Innern kam: ‚Meine Tochter!‘ Die Aegypterin hatte aus ihrem Säckchen einen kleinen Schuh gezogen, der dem anderen ganz gleich war. Auf diesem kleinen Schuh war ein Zettel befestigt, auf dem die Worte standen: Find'st den Schuh, den du gesucht, Liegst an deiner Mutter Brust! Mit Blitzesschnelle hatte die Klausnerin die beiden Schuhe mit einander verglichen und die Schrift gelesen; dann drückte sie ihr Gesicht, das von himmlischer Freude strahlte, dicht an das Gitter und rief: ‚Meine Tochter! Meine Tochter!‘ ‚Meine Mutter!‘ erwiederte Esmeralda. Beider Entzücken vermag keine Feder zu schildern.“

Arbeitsauftrag

1. Nennen Sie/Nenne die hier zugrunde liegende Angstvorstellung.

2. Erläutern Sie/Erläutere, woher der Hass der Klausnerin auf die als „Zigeuner“ Stigmatisierten kommt und wer mit „Ägyptern“, „Heiden“, „Zauberern“ und „Hexen“ gemeint ist.

3. Äußern Sie sich/Äußere dich dahingehend, ob es einen Zusammenhang zwischen der erzählten Geschichte und den Falschmeldungen zum „Fall Maria“ gibt.

4. Beurteilen Sie/Beurteile folgende Aussage: „Dieser Roman ist gefährlich, weil er eine Grundlage für das alte Vorurteil, ‚Zigeuner‘ würden Kinder entführen, bildet.“

5. Im Disney-Film „Der Glöckner von Notre Dame“ fehlt dieser Teil der Geschichte. Äußern Sie/Äußere mögliche Erklärungen.

Quelle

Hugo, Victor. Notre Dame: Oder die Liebfrauenkirche zu Paris: Ein historischer Roman, Stuttgart und Leipzig: L. F. Rieger & Comp., 1858, https://books.google.de/books?id=BHNTAAAAYAAJ&print­sec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false, zuletzt geprüft am 12. Juli 2023.