Hintergrundinformation: Die Wirkungsweise der antiziganistischen Vorurteilsstruktur

von Markus End

Mit dem Begriff Antiziganismus werden rassistisch begründete Einstellungen und Praxen gegen als mit der negativen Fremdbezeichnung Stigmatisierte bezeichnet. Hierbei kann es sich um sehr unterschiedliche Ereignisse wie beispielsweise tendenziöse Zeitungsmeldungen, Brandanschläge oder die schlechte Schulsituation vieler Sinti und Roma handeln. Diese Diversität liegt auch darin begründet, dass Antiziganismus – wie andere Vorurteilsstrukturen auch – ein sehr vielschichtiges und facettenreiches soziales Phänomen darstellt. Der Begriff wird folglich für teils sehr verschiedene Sachverhalte verwendet.

An dieser Stelle soll versucht werden, ein wenig Ordnung in diese zunächst unüber­schaubare Gemengelage zu bringen. Hierzu wird vorgeschlagen, mindestens fünf verschiedene Ebenen des Antiziganismus auseinanderzuhalten (vgl. End 2011, S. 16 f.): Die konkreten sozialen Interaktionen und Praktiken antiziganistischer Diskriminierung und Verfolgung, die historischen und politischen Rahmenbedingungen, die Stereotype und Bilder, die dahinter liegende Sinnstruktur sowie die damit verknüpften sozialen Normen und Werte.
 

2.1 Grundmechanismen von Ressentiments und Vorurteilen

Vor der Analyse der verschiedenen Ebenen sollen noch verschiedene Grundmechanismen erläutert werden, die sich bei einer Vielzahl relevanter Vorurteile und Ressentiments wiederfinden. Einige dieser Mechanismen werden im Rahmen der Übungen aus den Bereichen Sensibilisierung und Dekonstruktion thematisiert und hinterfragt.
 

2.1.1 Der Drei-Schritt

Der Entstehungsprozess jedes Ressentiments vollzieht sich notwendigerweise in drei Schritten (vgl. Holz 2001, S. 37 f., der sich auf eine Arbeit von Hausendorf 2000 stützt). Im ersten Schritt werden mindestens zwei homogene Gruppen, die Wir-Gruppe und die Fremdgruppe, angenommen, deren Mitglieder sich vermeintlich alle aufgrund der Ausprägung eines als essentialistisch – also als unveränderbar – verstandenen Merkmals unterscheiden. Diese Merkmale können beispielsweise Nation, Ethnie oder auch eine als unveränderlich angenommene „Kultur” sein. In diesem Schritt wird also eine trennscharfe Linie zwischen den Mitgliedern der eigenen Gruppe und denen der Fremdgruppe konstruiert.

In einem zweiten Schritt der Vorurteilsbildung werden allen Mitgliedern einer Gruppe Eigenschaften zugewiesen. Diese Zuweisung funktioniert nach dem Schema „alle X sind y“. „Alle Zigeuner sind faul“ wäre eine solche Zuweisung. Bei diesen Zuweisungen handelt es sich erkennbar um ein Fremdbild, also um ein Bild, das Angehörige einer Gruppe von den Angehörigen einer anderen Gruppe im Kopf haben. Darüber hinaus wird mit einer Zuschreibung von Eigenschaften an die Mitglieder einer Fremdgruppe immer implizit auch eine Aussage über die Eigenschaften der Mitglieder der Wir-Gruppe gemacht – beispielsweise „alle ‘Deutschen’ sind fleißig“. Die beiden Aussagen gehören demnach immer zusammen. Die Reflexion der Zusammengehörigkeit von Wir-Bild und Fremdbild ist daher für das bessere Verständnis der Funktion von Vorurteilsstrukturen essentiell.

Der dritte Schritt im Entstehungsprozess von Vorurteilen bildet die Bewertung der zugewie­senen Eigenschaften. Im Regelfall werden die Eigenschaften der Fremdgruppe abgelehnt und die Eigenschaften der Wir-Gruppe als wünschenswert angesehen. Jedoch finden sich auch antiziganistische Zuschreibungen, die eine vermeintliche Bewunderung oder Sympathie enthalten. Die Bewertung der jeweiligen Eigenschaften hängt davon ab, wie diejenigen, die sich antiziganistisch äußern, zu den Normen und Werten der jeweiligen Gesellschaft stehen, ob sie diese für richtig halten oder eher ablehnen. So wird beispielsweise die unterstellte Eigenschaft der „spontanen Musikalität“ von jenen abgelehnt, da dadurch unterstellt wird, sie frönten lieber Spiel und Spaß, als einer geregelten Tätigkeit nachzugehen wie es ihrer Vorstellung von einem „anständigen Leben” entspricht. Vertreter*innen der deutschen Romantik hingegen begrüßten die gleiche Eigenschaft, die Musikalität, da dieses Bild eher ihren sozialromantischen Vorstellungen entsprach, die mit einer Ablehnung der Industriegesellschaft und des Arbeitszwangs einhergingen.

Auf der Basis des hier beschriebenen Drei-Schritts aus Gruppenkonstruktion, Zuweisung von Eigenschaften und Bewertung dieser Eigenschaften lassen sich im Folgenden mehrere andere Mechanismen erläutern.
 

2.1.2 Positives Wir-Gefühl

Eine Ursache von Ressentiments kann darin gesehen werden, dass sie dazu beitragen, die eigene Gruppe und damit das eigene Selbstwertgefühl zu stärken. Die Wir-Gruppen, die im ersten Schritt gebildet werden, können als eine Art Ich-Identität auf sozialer Ebene gewertet werden. Sie helfen dem Individuum dabei, Gefühle wie Stolz, Sicherheit, Geborgenheit und Selbstbewusstsein auszuprägen. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die Eigenschaften, die der Wir-Gruppe im zweiten Schritt zugeschrieben werden, im dritten Schritt meist als positiv bewertet werden. Dies ist ebenso integraler Bestandteil jedes abwertenden Ressentiments wie die Abwertung der als „fremd“ stigmatisierten Gruppe.
 

2.1.3 Selbstverstärkende Effekte

Die Logik von Ressentiments beinhaltet verschiedene Effekte, die dazu führen, dass diese sich permanent selbst bestätigen. Ein erster dieser Effekte ist historisch bedingt. Es geht dabei um die Rückkopplungen, die von der Praxis der Ressentiments, also von den realen geschichtlichen Diskriminierungen, auf die Stereotype und Bilder der Gesellschaft entstehen. Es geht also um die Frage, ob Huhn oder Ei zuerst da waren. Als Beispiel ließe sich der Themenkomplex der „Nicht-Sesshaftigkeit“ anführen. Hierfür finden sich vor allem zwei Erklärungsansätze: 1. Angehörige der Minderheit der Sinti*zze und Rom*nja hätten ein nicht sesshaftes Leben geführt und seien deshalb als „nomadisch“ betrachtet worden. 2. Angehörige der Minderheit der Sinti*zze und Rom*nja seien diskriminiert worden, indem ihnen der Erwerb oder die Pacht von Ackerland sowie die Aufnahme in Zünfte verweigert worden seien, weshalb sie nicht dauerhaft an einem Ort hätten leben können.

Ob eine der beiden Erklärungen zutreffend ist, kann hier nicht abschließend geklärt werden, wichtig ist jedoch, dass sich beide Erklärungen gegenseitig bedingen: So wurden Sinti*zze und Rom*nja, die diskriminiert wurden, häufig in eine nicht sesshafte Lebensweise gedrängt und gleichzeitig Menschen häufig diskriminiert, die nicht sesshaft lebten. Was den Anfang machte, ist nicht mehr festzustellen und für die Analyse des Antiziganismus letztlich nicht relevant. Fest steht, dass sich das Bild des „nomadischen Zigeuner“ irgendwann von der sozialen Realität vieler Sinti und Roma löste und ein relativ unabhängiges Eigenleben führte.

Der Rückkopplungsprozess ist aber nicht nur für die Geschichte eines Ressentiments relevant, sondern auch für die Reproduktion von Ressentiments selbst. Verdeutlichen lässt sich dies an der Vertreibung eines Großteils der Roma-Minderheiten aus dem Kosovo. Die Angehörigen dieser Minderheiten lebten dort seit Generationen dauerhaft in ihren Heimatorten. In vielen Aspekten wie Bildung oder Arbeitslosigkeit unterschied sich ihr sozialer Status nicht von anderen Bevölkerungsgruppen. Trotzdem stellten sie für die von der NATO unterstützten albanischen Nationalist*innen ein derart großes Feindbild dar, dass diese nach dem gewonnenen Kosovokrieg von 1999 systematisch gegen die Roma-Minderheiten vorgingen. Ein Großteil wurde gewaltsam aus dem Kosovo vertrieben, ihre Häuser und Viertel wurden angezündet oder enteignet. Damit wurden unauffällige BürgerInnen, die so gar nicht dem Bild von „Nomaden“ und „Heimatlosen“ entsprachen, gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen und in anderen Ländern Schutz zu suchen. Viele dieser Geflüchteten wurden staatenlos, weil der Staat, dessen Staatsangehörige sie vorher waren, aufgehört hatte zu existieren. Aus einer antiziganistischen Perspektive passen diese geflüchteten und scheinbar heimatlosen Angehörigen von Roma-Minderheiten in das schon lange tradierte Bild.

Ein dritter selbstverstärkender Effekt ist damit schon angedeutet: Wenn die Wahrnehmungs­struktur der Gesellschaft erst einmal durch das Ressentiment geprägt ist, werden die Angehörigen der Gesellschaft vornehmlich jene Menschen als „Zigeuner” oder auch als „Roma” bezeichnen, die in ihr Bild diesbezüglich passen. Das heißt, eine Bettlerin mit einem etwas dunkleren Teint wird in einer westeuropäischen Stadt vermutlich als „Zigeunerin” wahrgenommen, obwohl dies vielleicht gar nicht der Fall ist, während jene Angehörigen der Minderheit der Sinti und Roma, die in einem anerkannten Beruf arbeiten, meist nicht derart wahrgenommen werden, da sie nicht in das typische antiziganistische Bild passen. Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass viele Angehörige der Minderheit die Zugehörigkeit zur Minderheit in der Öffentlichkeit verschweigen, weil sie sich dadurch zum Teil vor Diskriminierung und Ausgrenzung schützen können (vgl. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 2006, S. 3).
 

2.1.4 Essentialistische und soziale Definition

Mit dem letzten der eben genannten Effekte ist auch der nächste Grundmechanismus von Ressentiments angesprochen, der insbesondere im Antiziganismus eine wichtige Rolle spielt: Das Wechseln zwischen einer ethnischen oder auf andere Art essentialistischen Definition und einer sozialen Definition von „Zigeunern”. Eine antiziganistische Perspektive kann durch die oben angeführten Beispielsätze des Bettelns und Fleißigseins umschrieben werden. Aus dieser Sicht lässt sich die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen sowohl an dem angenommenen essentialistischen Merkmal („Rasse“, „Ethnie” und/oder „Kultur”) festmachen, als auch am angeblichen sozialen Verhalten, in diesem Beispiel also am Betteln, bzw. am fleißig sein. Aus der antiziganistischen Perspektive, die durch den Drei-Schritt Homogenisieren, Eigenschaften zuweisen, Eigenschaften bewerten geprägt wurde, ergibt sich aus einer sozialen und einer essentialistische Definition das gleiche Ergebnis. Für jene, die antiziganistisch denken, wird das eine durch das andere bestimmt. „Faule Deutsche“ und „bettelnde Deutsche“ sind in diesem Weltbild zunächst ausgeschlossen.

Die Realität stimmt aber nie mit diesem Weltbild überein. Es gibt selbstverständlich Bettler*innen, die als „deutsch“ gelten und Sinti*zze und Rom*nja, die anerkannten Berufen nachgehen. Die Realität zieht die antiziganistische Sichtweise auf die Welt permanent in Zweifel. Zusätzlich angreifbar wird sie durch den Umstand, dass es selbstverständlich nicht möglich ist, einen essentialistischen Kern festzustellen, der ein bestimmtes Sein (bspw. „deutsch“) ausmacht. Es gibt eben keine „Rassen”. So wechseln viele Antiziganist*innen zwischen beiden Definitionen hin und her oder versuchen sich an Lösungen für die fehlende Deckungsgleichheit: Sesshaft lebenden und arbeitsamen Rom*nja wird beispielsweise nachgesagt, dass sie irgendwann von ihrer „wahren Natur“ eingeholt würden.

Gleichzeitig erlaubt diese doppelte Definition des „Fremden” in der antiziganistischen Praxis eine große Flexibilität. Sie ermöglichte zum Beispiel der Polizei in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl an Personen und Gruppen, die als bedrohlich wahrgenommen wurden, als „Zigeuner” zu klassifizieren und zu verfolgen (vgl. Lucassen 1996), während demgegenüber in der stärker rassistisch geprägten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umfangreiche Abstammungstabellen angelegt wurden, um die Klassifizierung „Zigeuner” „rassisch“ einzugrenzen.
 

2.1.5 Projektives Bild

Für die Bilder und Stereotype von als mit der negativen Fremdbezeichnung Stigmatisierten gilt eine Grundregel: Ihre Ursache liegt nicht in den Eigenschaften oder im Verhalten der stigmatisierten Menschen begründet. Häufig wird diese Grundregel der Vorurteilsforschung auch von antiziganis­muskritischen Stimmen ignoriert. Dann wird angenommen, die existie­renden Vorurteile, seien Verall­gemeinerungen von Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die in der Realität tatsächlich aufzufinden seien. Dabei wird jedoch immer noch unterstellt, dass es einen realen Kern des Vorurteils gäbe, der lediglich unzulässig verallgemeinert würde. Dem ist nicht so. Damit soll nicht gesagt werden, dass es keine derart stigmatisierten und diskriminierten Personen geben kann, die den Vorurteilen entsprechen. Solche realen Erfah­rungen sind jedoch nicht ursächlich für die komplexe und tief verankerte Vorurteilsstruktur des Antiziganismus. Vielmehr müssen antiziganistische Vorurteile als projektive Bilder betrachtet werden, also als Ergebnis einer Wahrnehmungsstruktur, in der die Angehörigen der Wir-Gruppe Eigenschaften und Tätig­keiten, die ihnen aufgrund sozialer Normen und Werte (siehe dazu die fünfte Ebene) verboten sind, auf eine andere Gruppe projizieren (vgl. dazu Hork­heimer und Adorno 1989, S. 201). Dieser Mechanismus ist grundlegend für jede tiefer verankerte Vorurteilsstruktur. Sie bedeutet für die Angehörigen der Gesellschaft die Möglichkeit, gesellschaftlich unerwünschte Eigen­schaften oder Vorkommnisse als Eigen­schaften einer fremden Gruppe erscheinen zu lassen oder als Vorkommnisse, die von einer fremden Gruppe verursacht wurden. So werden das Wir-Bild und das Wir-Gefühl der Wir-Gruppe moralisch gestärkt und die Angehörigen dieser Gruppe zugleich von der Schuld an Missständen freigesprochen. Wie bereits in der Darstellung des Drei-Schritts angeklungen, lassen sich also aus antiziganistischen Projek­tionen hauptsächlich Rückschlüsse auf die ethischen, moralischen und sozialen Normen und Werte der antiziganistisch eingestellten Wir-Gruppe ziehen. Außerdem kann im Rahmen dieses Verständnisses erkannt werden, welche Eigenschaften und Verhaltensweisen von der Wir-Gruppe abgelehnt werden.
 

2.2 Die verschiedenen Ebenen des Antiziganismus[1]

Wie bereits eingangs angemerkt, bietet das Ebenen-Modell einen Ansatz zur Unterscheidung und Einordnung der verschiedenen Facetten des Antiziganismus.
 

2.2.1 Soziale Interaktionen und Praktiken

Der Grund, weshalb Vorurteile so gefährlich sind, liegt darin, dass sie häufig in soziale Interaktionen und Praktiken münden, die für die Betroffenen massive Einschränkungen ihrer Lebenschancen und häufig schwerste Schäden an Hab und Gut, an Leib und Leben bedeuten. Gegenwärtig müssen Menschen, die als „Zigeuner” angesehen werden, stets befürchten, von solchen Praktiken betroffen zu werden. Die antiziganistisch motivierten Brandanschläge auf das Haus einer Familie deutscher Sinti im sächsischen Klingenhain am 26. Dezember 2009 (vgl. End 2010) oder der Angriff mit Softair-Waffen auf eine Gruppe von Sinti in Detmold (Rat der Stadt Detmold 2012) stellen sehr gewalttätige Beispiele für solche sozialen Praktiken dar. Der nationalsozialistische Genozid an Sinti*zze und Rom*nja mit dem Ziel der umfassenden Vernichtung stellt die radikalste Form antiziganistischer Praxis dar. Insbesondere in Deutschland muss eine Beschäftigung mit Antiziganismus immer auch vor dem Hintergrund geschehen, dass dieser Völkermord hier geplant und beschlossen, dass er von Deutschen vorangetrieben und durchgeführt wurde.

Neben direkter Gewalt müssen auch strukturelle Verhältnisse, wie beispielsweise die weit verbreitete Diskriminierung deutscher Sinti und Roma im deutschen Bildungssystem (vgl. Strauß 2011), auf der Ebene sozialer Interaktion und Praxis analysiert werden. Hier finden sich subtile und gleichzeitig tiefgreifende Ausschlussmechanismen, die häufig ohne bewusste Entscheidung einhergehen, sondern auf mangelnder Sensibilität und Reflexion beruhen.
 

2.2.2 Historische und politische Rahmenbedingungen

Diese sozialen Praktiken sind eingebettet in historische und politische Rahmenbedingungen, die nicht identisch sind mit Antiziganismus, sondern dessen Manifestation, also die auf der ersten Ebene liegenden Praktiken, fördern oder hemmen. Anders ausgedrückt: Ob es zu antiziganistischen Interaktionen oder Praktiken kommt, hängt von Faktoren auf verschiedenen Ebenen ab. Eine dieser Ebenen sind die Rahmenbedingungen. Die Zunahme antiziganis­tischer Übergriffe in verschiedenen Ländern Ost-, Südost- und Mitteleuropas in den Jahren seit dem Ende des sogenannten Realsozialismus wird beispielsweise häufig mit der großen Armut und der hohen Arbeitslosigkeit in diesen Ländern erklärt. Hier soll ein Verständnis von Antiziganismus vertreten werden, das den Einfluss solcher Faktoren nicht leugnet, sondern sie als notwendige, aber nicht hinreichende Erklärungen interpretiert.

Auch Konflikte zwischen Angehörigen und Nicht-Angehörigen der betroffenen Minderheiten können zu solchen Rahmenbedingungen zählen, also Anlass für antiziganistische Äuße­rungen oder Handlungen sein. Dabei muss streng zwischen Anlass und Ursache unter­schieden werden: Ein solcher Konflikt kann Anlass zu antiziganistischen Äußerungen oder Handlungen sein, niemals jedoch Ursache für Antiziganismus. Als Ursache dient immer ein verankertes antiziganistisches Wahrnehmungsmuster. Die antiziganistischen Demonstra­tionen und Übergriffe in ganz Bulgarien im Jahr 2011 beispielsweise waren ausgelöst worden durch einen vermeintlichen Mord, der durch einen mutmaßlichen Anführer einer Mafiastruktur, in Auftrag gegeben worden sein soll. Dass dieser gleichzeitig der Minderheit der Roma angehörte, reichte als Anlass, damit zehntausende BulgarInnen in den folgenden Wochen in ganz Bulgarien Viertel, in denen Roma lebten, attackierten. Das mutmaßliche Verbrechen wurde somit nicht lediglich den mutmaßlichen Täter*innen, sondern allen Roma in Bulgarien zur Last gelegt, bei vergleichbaren Verbrechen durch Nicht-Roma kam es nicht zu solchen Ausschreitungen (vgl. Konicz 2011).

Historische und politische Rahmenbedingungen können die Manifestation von Antiziganismus nicht nur begünstigen, sondern auch hemmen oder im günstigsten Fall sogar verhindern. Zu den hemmenden Rahmenbedingungen können beispielsweise Antidiskriminierungsgesetze oder die Partizipation von Sinti*zze und Rom*nja an politischen Entscheidungen gehören. Auch breitere gesellschaftliche Entwicklungen wie beispielsweise die gesellschaftliche Liberalisierung in der Bundesrepublik Deutschland seit den späten 1960er Jahren können eine solche hemmende Wirkung entfalten.
 

2.2.3 Vorurteile und Stereotype

Die Motivationsquelle, diskriminierende oder ausgrenzende Handlungen zu vollziehen, kommt aus den Vorurteilen und Stereotypen, die in der Kultur der Mehrheitsbevölkerung weit verbreitet sind. Aber auch sie stellen für sich genommen keine hinreichende Bedingung für antiziganistische Praktiken dar. Erst wenn die auf der zweiten Ebene beschriebenen Rahmenbedingungen und die auf dieser Ebene liegenden Vorurteile zusammenkommen, besteht eine hinreichende Bedingung für antiziganistische Praktiken.

Die meisten Angehörigen der Bevölkerung in Deutschland wachsen mit Vorurteilen auf, ohne dass sie jemals bewusst eine*n Angehörige*n der Minderheit der Sinti*zze und Rom*nja kennengelernt haben. Antiziganistische Vorurteile und Stereotype finden sich in allen Bereichen der Gesellschaft, werden durch mediale Bilder in Büchern, Filmen, Liedern, Werbung und Presse-Erzeugnissen reproduziert und transportiert und so in der Schule, in der Familie und im sozialen Umfeld eingeübt. Die meisten dieser Vorurteile sind negativer Art. Doch es gibt auch positiv anmutende Vorurteile, wie beispielsweise das romantische Bild vom „lustigen ‚Zigeunerleben’“.
 

2.2.4 Sinnstruktur

Auf der Ebene der Sinnstruktur jedoch unterscheiden sich positive und negative Stereotype nicht. Die Sinnstruktur eines Vorurteils bezeichnet eine abstraktere Bedeutungsebene, die den Vorurteilen zu Grunde liegt. Sie bezeichnet die essentielle und kontextunabhängige Gemeinsamkeit der vielen einzelnen antiziganistischen Äußerungen in Wort, Schrift, Bild und Film. Es ist diese Sinnstruktur, die es uns ermöglicht, Äußerungen, die aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen stammen, relativ kontextunabhängig als antiziganistisch zu bezeichnen (vgl. dazu Holz 2001, S. 30 f.). Die Sinnstruktur eines Ressentiments muss als ein Element von Kultur verstanden werden, als ein Erklärungsmuster, das alle Mitglieder einer Gesellschaft kennen. Sie setzt sich aus verschiedenen Sinngehalten zusammen, die miteinander in Verbindung stehen. Durch die Beschreibung und Analyse dieser Sinnstruktur wird es auch möglich, dem Begriff Antiziganismus eine über Feindschaft hinausgehende Bedeutung zu geben, die den Begriff inhaltlich präziser bestimmt. Ob antizi­ganistische Darstellungen negativ oder positiv diskriminieren, ergibt auf der Ebene der Sinnstruktur keinen Unterschied. In beiden Fällen ist der Sinn der Aussage, zu verdeutlichen, dass Sinti*zze und Rom*nja nicht, wie es nach den gängigen sozialen Normen gewünscht wäre, fleißig und diszipliniert arbeiteten, sondern von der Arbeit der Bevölkerung lebten.
 

2.2.5 Soziale Normen und Strukturen

Die Sinnstruktur von Ressentiments ist immer mit sozialen Normen und Strukturen verknüpft. Zumeist ist die Sinnstruktur so aufgebaut, dass der Wir-Gruppe darin die Einhaltung dieser Normen zugeschrieben wird, während der Fremdgruppe ein Bruch oder gar ein Angriff auf diese Normen unterstellt wird. Durch solche Projektionen (siehe auch 2.1.5) können soziale Normen und Strukturen hergestellt und verfestigt werden. Die tiefer liegende Ursache des Antiziganismus kann also in diesen Normen und Strukturen der Gesellschaft gesehen werden. Jene Normen und Moralvorstellungen, von denen angenommen wird, dass die als mit der negativen Fremdbezeichnung Stigmatisierten sie immer wieder verletzen würden, müssen also als ein Aspekt des Antiziganismus in eine kritische Analyse mit einbezogen werden.
 

2.3 Zentrale Inhalte des Antiziganismus

Im Anschluss soll exemplarisch auf einzelne zentrale Vorurteile und Sinngehalte eingegangen werden, die als Kernelemente des Antiziganismus gelten können.[2] Diese Sinngehalte sind miteinander verwoben und sie stehen in einem sinnvollen Verhältnis zueinander. Mit diesen drei Sinngehalten ist weder der gesamte Vorrat an Vorurteilen und Stereotypen des Antiziganismus‘ beschrieben, noch die vollständige Sinnstruktur. Es geht vielmehr darum, das Verständnis für die Sinnstruktur des Antiziganismus und ihre vielfältigen Ausdrucksformen in den Vorurteilen und Stereotypen zu verbessern, indem diese drei Sinngehalte – als Kernelemente der antiziganistischen Sinnstruktur – genauer beleuchtet werden.
 

2.3.1 Nicht-Identität

Der Sinngehalt der Nicht-Identität muss als ein zentraler Sinngehalt der antiziganistischen Sinnstruktur gelten. Die häufigsten Vorurteile und Stereotype, in denen sich dieser Sinngehalt gegenwärtig finden lässt, sind die rassistischen Attributszuweisungen „heimatlos“ oder „nomadisch“. Dies muss als ein Ausdruck dieses Sinngehalts verstanden werden. Während die Wir-Gruppe ihre feste Identität aus der Identifikation mit der Nation zieht, im vorliegenden Fall also mit Deutschland, wird über jene, die durch die negative Fremdbezeichnung stigmatisiert werden, gesagt, sie hätten keine Heimat, kein Vaterland, und zögen stattdessen nomadisierend umher. Auf diese Art wird ihnen jene Eigenschaft, die für die Wir-Gruppe eine zentrale Rolle für die Identitätsbildung spielt, eine feste Nationalität, abgesprochen. Nationalität wird dabei nicht als Staatsangehörigkeit verstanden, sondern als die Kombination aus einer langen nationalen Tradition, einer festen Kultur, einem nationalen Raum und einem Nationalstaat. Falls ihnen zugestanden wird, eine Nation zu sein, dann wird dieses Zugeständnis im gleichen Atemzug widerrufen. Ein gutes Beispiel zur Verdeutlichung ist ein Zitat des „Turnvaters“ Friedrich Ludwig Jahn: „[N]ichts ist ein Volk ohne Staat, ein leibloser luftiger Schemen, wie die weltflüchtigen Zigeuner und Juden“ (Jahn 1841, S. 18). In ähnlicher Logik funktioniert der Vorwurf, keine feste Religiosität zu besitzen oder sich in den religiösen Gebräuchen immer an der Gesellschaft zu orientieren, der insbesondere bis in das frühe 20. Jahrhundert häufig erhoben wurde: „Von einer echten Religiosität findet sich bei ihnen keine Spur“ (Portschy 1938, S. 13).

Diese Stereotype und Vorurteile zielen also in ihrer Logik darauf ab, zu verdeutlichen, dass sie keine Identität hätten, nicht verwurzelt und in ihrem Wesen klar definiert seien.
 

2.3.2 Archaische Parasiten

Ein zweiter zentraler Sinngehalt des Antiziganismus ist die Vorstellung eines parasitären, schmarotzenden Lebensstils. Am kürzesten lässt sich dieser Sinngehalt in der häufigen Entgegensetzung der beiden Figuren des „Zigeuners“ und des „Bauern“ beschreiben. In unzähligen antiziganistischen Texten findet sich diese Konstellation. Die Bevölkerung bekommt die Rolle der „Bauern“ zugeschrieben, die die Lebensmittel produzieren. Die davon Ausgegrenzten leben in der antiziganistischen Logik von „den Bauern“, also von den Lebensmitteln, die diese produziert haben. Mit dem Satz „Er lebt von Menschen […]“ (Arnold 1965, S. 207) hat der deutsche sogenannte Zigeunerforscher Hermann Arnold diese Logik – ohne kritische Absicht – zusammengefasst. Sie findet sich in nahezu allen Vorurteilen darüber, wie die Stigmatisierten ihren Lebensunterhalt angeblich bestreiten: Betteln, Stehlen, Wahr­sagen, Musizieren, Hausieren, Sozialbetrug. Allen diesen Vorstellungen ist gemein, dass es sich um Tätigkeiten handelt, die nicht als „richtige Arbeit“ angesehen werden und welche die anderen um ihre Arbeitsprodukte bringen. Der Sinngehalt ist immer der oben beschriebene des parasitären und schmarotzenden Lebensstils.

Als archaisch wird diese Verhaltensweise angesehen, weil unterstellt wird, dass sie die zivilisatorischen Prinzipien wie Eigentum, Gesetze und Lohnarbeit, die zur Verteilung von Gütern vorgesehen sind, nicht anerkennen und sich nicht an sie halten. Unterstellt wird folglich eine vorzivilisatorische – eben archaische – parasitäre Lebensweise. Dies ist der Kern der oben beschriebenen Vorurteile und Stereotype.
 

2.3.3 Sorglosigkeit

Der dritte zentrale Sinngehalt, der hier angeführt werden soll, bezieht sich auf die unterstellte Sorg- und Disziplinlosigkeit. „Deutsche” als Gegenentwurf zu Sinti*zze und Rom*nja sind in dieser Vorstellung sparsam, vorsorgend, diszipliniert und vernunftgelenkt. Letztere hingegen sind lediglich um die direkte Befriedigung von Trieben und Lüsten bemüht, ohne an die Zukunft zu denken. Sie verkörpern das, was Freud mit dem psychoanalytischen Terminus „Lustprinzip“ bezeichnete, während den „Deutschen“ das „Realitätsprinzip“ zugeschrieben wird (Freud 2000). So schreibt Hermann Arnold: „Ein Sinto lebt in der Regel von der Hand in den Mund. Er besitzt niemals Ersparnisse und kann sie bei seiner Wirtschaftsweise auch kaum zurücklegen. Verbessert sich sein Einkommen, so feiert er Feste und läßt Gott einen guten Mann sein“ (Arnold 1965, S. 206). Der Bereich der Vorurteile, die diesen Sinngehalt verdeutlichen, ist sehr weit: Ständiger Genuss von Rauschmitteln, Tabak und Alkohol, undisziplinierte Sexualität, ungehemmte Emotionen und ekstatische Musik und Tänze. Alle diese Stereotype kreisen um angeblich nicht vorhandene Kontrolle der eigenen Psyche, der eigenen Regungen und Lüste.
 

2.4 Fazit

Antiziganismus ist ein komplexes Phänomen, dessen Analyse nicht eindimensional verlaufen darf. Ebenso müssen pädagogische Ansätze versuchen, nicht nur auf einen Aspekt zu fokussieren, sondern die ganze Bandbreite des Antiziganismus zu thematisieren. Mit dem vorliegenden Methodenhandbuch wird ein Versuch unternommen, dieser Vielschichtigkeit gerecht zu werden und Antiziganismus auf vielen verschiedenen Wegen zu hinterfragen.


[1] Dieser Abschnitt basiert auf meinen Ausführungen in End 2011, S. 16 f. Einzelne Passagen sind wörtlich übernommen.

[2] Siehe für diesen Abschnitt ebenfalls End 2011, S. 18 ff.

 

Quelle

End, Markus. „Die Wirkungsweise der antiziganistischen Vorurteilsstruktur“, in: Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit (2. Aufl.), Alte Feuerwache e.V. Jugendbildungsstätte Kaubstraße (Hg.), Münster: Unrast Verlag, 2014, 24–29.