Interviewausschnitt mit Faiz

Faiz war zum Zeitpunkt des Interviews 21 Jahre alt und floh mit seiner Familie im Alter von 15 1/2 Jahren aus einem überwiegend schiitischen Ort in Afghanistan nach Deutschland. Er beschreibt Folgendes: Meine Eltern haben mich nicht gezwungen, sondern die Umgebung hat mich gezwungen. Wenn ich nicht in der Moschee war, hat mich nicht mein Vater gefragt, sondern der Nachbar und der Lehrer ... Und das sind Sachen, die mir nicht gefallen, jetzt. Jetzt ist das für mich ganz anders, ich bin in einer offenen Gesellschaft, da kann mich keiner zwingen, etwas zu machen, was ich nicht will [...] Seit ich in Deutschland bin, war ich in den ersten zwei Jahren religiös, d.h. bin regelmäßig in die Moschee gegangen, hab mitgebetet, hab gefastet, an allen Veranstaltungen teilgenommen, irgendwann kam die Zeit, dass ich mein zweites Buch gelesen hab, neben dem Koran. D.h. da wurde ich ein bisschen kritischer. Es fand ein Kampf in mir statt, und zwar was ist eigentlich Glaube? Warum gibt's Religion? Wozu ist die Religion? Warum sollen wir religiös sein? Warum bete ich? Für wen? Wieso soll ich um fünf Uhr aufstehen und beten? Wenn man Muslim ist und die Religion ernst nimmt, dann steht man auf. Ich bin auch zwei Jahre aufgestanden und dann hab ich aufgehört, ich hab den Sinn nicht gesehen und hab gesagt: Du bleibst Muslim, aber du bleibst kritisch. Muslim kannst du bleiben, aber kritisch bleiben, d.h. du kannst dich mit Islam oder überhaupt mit der Religion kritisch auseinandersetzen, du musst nicht einen einzigen Weg, der von Mohammed oder einem anderen Propheten vorgeschrieben ist, einschlagen, d.h. du musst selber für dich einen Glauben finden, für den du stehst, der soll dich erfüllen. Du musst nicht nachmachen. Mein Vater hat mir das erlaubt, so zu denken, wie ich denken möchte. Ich bin ein freier Mensch zu überlegen, diese Religion hat diese Vorteile und diese. Ich entscheide mich für die dritte, das ist meine Sache. Ich kann nicht sagen, ob ich religiös bin, ich kann nicht sagen, ob ich Religion hab, ich kann auch nicht sagen, ob ich Atheist bin. [...]

Arbeitsauftrag

1. Fasse die für Faiz wichtigen Elemente zum "muslimisch Sein" zusammen:
a) in Afghanistan und zur Anfangszeit in Deutschland b) zum Zeitpunkt des Interviews.
2. Beschreibe die Bedeutung des jeweiligen gesellschaftlichen Kontextes und die Veränderung, die mit Faiz' Migration verbunden ist. 3. Erkläre die Veränderung des Gefühls der Zugehörigkeit anhand des Textes. 4. Arbeite Faiz´ Zugänge zu Glaube und religiöser Praxis heraus. 5. Gib Faiz´Kritik und seinen Umgang damit wieder.

Quelle

Interview Dr. Ursula Günther mit Faiz am 08.12.2006 in Hamburg.