Der folgende Text ist ein Auszug aus Prof. Dr. Sabine Mangold-Wills Artikel mit dem Titel „Deutsche in der Türkei 1933-1945“, den sie 2014 auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht hat:
„Die Türkei diente in den Jahren 1933-1945 zahlreichen deutschen Wissenschaftlern und Künstlern als Exil. Sie stellten jedoch nur einen Teil der auslandsdeutschen Gemeinde in der Türkei dar, die auch nach 1933 ein Abbild der politisch gespaltenen deutschen Gesellschaft blieb. Denn die türkische Regierung suchte bereits seit Mitte der 1920er-Jahre Hilfe bei deutschen Experten zu Modernisierung ihres Landes, unabhängig von parteipolitischen Werten.
[…] Um das türkische Exil dieser insgesamt rund 650 verfolgten Wissenschaftler, ihrer Angehörigen und Mitarbeiter angemessen zu interpretieren, kann die zufällige zeitliche Übereinstimmung von nationalsozialistischem Machtantritt und türkischer Suche nach geeigneten Experten für die neu gegründete Universität in Istanbul und das 1932 eingerichtete Yüksek Ziraat Enstitüsü – also die Landwirtschaftliche Hochschule – in Ankara nicht deutlich genug betont werden. Voraussetzung für die erfolgreiche Vermittlungsarbeit des Frankfurter Pathologen Philipp Schwartz, der selbst zu den Opfern des ‚Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘[1] gehörte, war die seit 1932 andauernde Beratung der türkischen Regierung durch den Schweizer Pädagogen Albert Malche, der seinen Auftraggebern bevorzugt jüdische und politisch verfolgte deutsche Gelehrte zur Berufung vorschlug. Denn es ging der Türkei nicht darum, Juden und andere Verfolgte des NS-Regimes zu retten. Der Politikwissenschaftler Kemal Bozay betont in seiner Studie zum ‚Exil Türkei‘ zurecht die ‚technokratische Orientierung‘[2] der türkischen Regierung, die rein funktional nach Experten für das kemalistische Modernisierungsprogramm suchte und dabei ebenso auf jüdische und liberale wie auf konservative und nationalsozialistische Wissenschaftler zurückgriff. […]
Auch wenn viele der in die Türkei berufenen Wissenschaftler ihr Exil in der Türkei als schwierig und belastend empfanden, bildeten sie letztlich doch eine Gruppe von Eliten-Emigranten, deren Leben nicht mehr fundamental bedroht war. Ihre Arbeitsverträge garantierten ihnen nicht nur ein festes Einkommen, sondern vor allem ein – wenn auch zeitlich begrenztes – Aufenthaltsrecht, das sie durch die Annahme der türkischen Staatsbürgerschaft verstetigen konnten. Deutlich prekärer war dagegen bereits die Lage ihrer Mitarbeiter und Laborleiter – unter ihnen viele Frauen – die keine festen Arbeitsverträge erhielten und daher praktisch permanent von der Arbeitslosigkeit und damit der Abschiebung bedroht waren.[3]
[…] Deutsche Wissenschaftler, die in die Türkei gingen, sollten Wissensbestände und disziplinspezifische Methoden an ihre türkischen Studenten weitergeben und auf diese Weise zur Modernisierung des Landes beitragen.“
[1] Bereits im April 1933 erließen die Nationalsozialisten dieses Gesetz, um vor allem jüdische und politisch missliebige Bürger aus dem Staatsdienst zu entlassen.
[2] Kemal Bozay: Exil Türkei. Ein Forschungsbeitrag zur deutschsprachigen Emigration in der Türkei (1933-1945), Münster 2001, 97.
[3] Vgl. Regine Erichsen: das türkische Exil als Geschichte von Frauen und ihr Beitrag zum Wissenschaftstransfer in die Türkei von 1933 bis 1945, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 28 (2005), 337-353.
Sabine Mangold-Will, „Deutsche in der Türkei 1933-1945: Mehr als eine Exilgeschichte und einseitiger Modernisierungstransfer“, 5. September 2014, in: Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/themen/europa/tuerkei/184978/deutsche-in-der-tuerkei-1933-1945/ , zuletzt geprüft am 15. Dezember 2023.