Jugendbuch "Soundcheck" (Variante B)

„Soundcheck“ ist ein Jugendbuch von Elisabeth Gänger. Es handelt von der Protagonistin und Außenseiterin Cindy, die auf ein Gymnasium geht (noch bevor „Inklusion“ an Schu­len ein Thema war). Diese Auszüge schildern ihre Erfahrungen und Erlebnisse in ihrem Schulalltag, in dem sie sich erst einmal zurechtfinden muss.

„Herr Bender kam und mit ihm das übliche Elend. Eigentlich begann der erste Schultag immer damit, dass manche aus der Klasse erzählten, was sie in den Ferien erlebt hatten. Aber heute schien Herr Bender nur zu erklären. Er sah dabei ein paar Mal zur Uhr, keine Ahnung, was er vorhatte. Solche Dinge bekam ich meist als Letzte mit oder gar nicht. Ich bin hörgeschädigt. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich finde, das „geschädigt“ klingt irgendwie witzig. Mir fällt dabei immer ein Auto ein, das einen Getriebeschaden hat, aber trotzdem noch funktioniert. Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob ich ausreichend funktioniere. Mein Hör­scha­den ist so groß, dass man mich, wäre ich ein Auto, vermutlich direkt zum Schrottplatz bringen würde. […]

Ich saß seit der ersten Klasse neben Tabea. Vielleicht ging sie mir deshalb so auf den Zei­ger. Obwohl sie die Einzige war, die mir hin und wieder was erklärte. Tabea hatte zwischen­durch einen Haufen anderer Freundinnen gehabt. Aber das war meistens schon nach ein paar Wochen wieder aus gewesen. Ich hatte nie ein anderes Mädchen zur Freundin gehabt. Ich war überzeugt, dass meine Mitschüler mich nicht mochten, weil man mir immer zwei- oder dreimal sagen muss, was zu tun ist. Dass sie mich deshalb für blöd hielten. […]

Wenn es in der Schule etwas gab, was ich noch mehr hasste als Diktateschreiben, dann war es das, was Herr Garlich „Word-Countdown“ nannte. Herr Garlich war unser Englisch­lehrer, und so oft wie Molly und Paps ihn schon angerufen und um ein Minimum an Rück­sicht gebeten hatten, konnten wir nur annehmen, dass er mich lieber gestern als heute an einer Sonderschule für Hörkrüppel wie mich gesehen hätte. Beim Word-Countdown musste die ganze Klasse aufstehen und Herr Garlich begann Wörter in den Raum zu nuscheln. Wer eine Vokabel zuerst und auch richtig übersetzte, durfte wieder Platz neh­men. Und wer das Pech hatte und nicht hören konnte, was Herr Garlich nuschelte, blieb eben stehen. Ich stand meistens als Letzte. […] Kurz vor den Sommer­ferien war etwas passiert, das Molly damals Sternstunde nannte. Herr Garlich stand ganz in meiner Nähe, als er einen Word-Countdown ankündigte. Ich glaube, er hatte sich kurz davor seinen Bart gestutzt, denn ich sah seine Oberlippe und zur Hälfte hörte ich sogar, dass er mit dem Wort „Rücksicht“ begann. „Consideration!“, antwortete ich, vermutlich noch vor den anderen, denn Herr Garlich guckte auf einmal so verdutzt […]. Aber gleich nach dem Count­down schrieben wir ein Diktat. Ich meine, Diktate waren schon auf Deutsch ein Grauen. Da schrieb ich grundsätzlich Schirm statt Schwert und solche Sachen; in einer Fremdsprache brauchte ich es da gar nicht erst zu versuchen. Deshalb wurden meine Diktate auch nicht bewertet. Ich schrieb einfach ab, was Tabea hatte, und gab ihr, wenn ich einen Fehler bei ihr sah, einen Schubs. Aber an diesem Tag, nach dem Word-Countdown, schob sie plötzlich ihren Arm zwischen sich und mich. „Wieso soll ich dir helfen?“, fragte sie. „Bei den Vokabeln warst du doch besser als ich! […]

Ich hasste einkaufen. Weil dabei immer irgendwas Unvorhersehbares passierte. Und jetzt sollte ich Molly auch noch eine Tüte Persil mitbringen. Ich ließ mir das Geld bis auf den Cent genau von ihr abzählen. Damit es an der Kasse bloß kein blödes Gefrage nach passenden Münzen oder so was gäbe. Im Laden schnappte ich mir Waschpulver und Zeitschrift und reihte mich zum Bezahlen ein. Mir fielen fast meine Sechs-Neunundsiebzig aus der Hand, als ich am Bäckerstand Aline entdeckte. Sie unterhielt sich mit einem älte­ren Jungen […]. Ich bekam eine Megapanik, dass Aline mich auch sehen könnte. Im Super­markt war es ätzend laut. Bestimmt dröhnte gerade wieder irgendeine blöde Musik von den Decken. […] Ich schüttete der Kassiererin meine Münzen in die Hand und machte, dass ich rauskam. Eine Verkäuferin, an der ich vorbeilief, schien mir etwas zuzu­rufen, doch ich sah einfach weg. Draußen schwang ich mich bereits aufs Fahrrad, als jemand energisch an meinem Ärmel zog. Aline. Sie hielt ein Fünfzig-Cent-Stück in die Höhe und sagte laut: „Guck mal! Du hast zu viel bezahlt. Aber sie konnten dich ja nicht so einfach zurückrufen.“ Verlegen drehte ich mich nach dem Supermarkt um. Auf einem der Schilder am Eingang stand, dass Persil in dieser Woche im Sonderangebot war. […]

Dienstag schrieben wir einen Wordcheck. Man musste zwanzig Vokabeln, die Herr Ger­lach auf Deutsch sagte, ins Englische übertragen und den Zettel dann abgeben. Meistens verstand ich schon das deutsche Wort nicht, doch zum Glück kritzelte Tabea mir immer auf den Tisch, was Herr Garlich diktierte. Sie lernte so gut wie nie Vokabeln. Und dafür, dass sie mir beim Verstehen half, bekam sie eben meine Lösungen. Das war in allen Fächern so, außer bei Aufsätzen. Da tauschten wir zum Schluss einmal kurz die Hefte, damit ich ihre gröbsten Fehler korrigieren konnte. In der Fünf-Minuten-Pause kam Aline zu uns an den Tisch. Sie meinte, das sei ja wohl blöd gelaufen vorhin. Der Garlich könne die deutschen Wörter doch an die Tafel schreiben anstatt sie zu sagen. Dann hätte ich dieselbe Chance wie alle anderen auch, jedenfalls bei einem Wordcheck. „Wozu denn?“, fragte Tabea […]. „Es funktioniert doch.“ „Ja, weil du ihr hilfst“, antwortete Aline. „Aber Cindy könnte das genauso gut alleine. Sie müsste nur wissen, was er meint. […]

Im Unterricht einen Film zu sehen war genauso frustig wie Word-Countdowns oder Dikta­te­schreiben. Meistens krachte die Stimme des Sprechers so lausig gegen die Wände, dass ich die Hörgeräte schon nach den ersten Sätzen ausschaltete. Meine Protokolle fie­len natürlich dementsprechend aus. Über den Film heute würde ich wohl schreiben, dass ein paar Laiendarsteller, die auf Steinzeit getrimmt waren, versuchten Löcher in einen Fel­sen zu bohren. Komisch. Eigentlich hatten wir Geschichte bei Herrn Kraus. Und bei dem waren wir inzwischen beim Dreißigjährigen Krieg. Herr Bender gab wahrscheinlich nur eine Vertretungsstunde. Aber warum zeigte er uns ausgerechnet diesen Quatsch aus der Vorzeit? Ich notierte wahrheitsgemäß, dass die Felle der Darsteller aussahen wie billige Webpelze und die schauspielerische Leistung schlechter war als alles, was ich […] jemals gesehen hatte. […] Jetzt machte der Beitrag einen Riesensprung in die Gegenwart. Wir sahen Fahrräder und Turbinen und ich sah eigentlich immer verständnis­loser zu Tabea. Die tauschte heute die ganze Zeit Zettel mit Selma und Jennifer. […] Ich fragte sie nach dem Unterricht, ob sie mir vor der nächsten Geschichtsstunde ihr Pro­to­koll zeigen würde. „Wieso Geschichte? Das war doch eben Physik.“ „Kann nicht sein“, grübelte ich. „Wir haben mittwochs gar kein Physik.“ „Oh, du Arme!“, schlug sie sich da gegen die Stirn. „Der Bender hat doch die Stunden getauscht! […]“

Arbeitsauftrag

  1. Beschreibt die im Text vermittelten Bilder und Erzählformen. Wie werden Behinderung/ Beeinträchtigung und Menschen mit Beeinträchtigung dargestellt.
  1. Äußert euch dazu, inwiefern Cindys Schulalltag inklusiver gestaltet werden könnte. Macht Vorschläge.
  1. „Man merkt, dass die Autorin Mutter einer stark schwerhörigen Tochter ist.“ – Nehmt Stellung zu dieser Aussage.
     

Quelle

Auszüge zitiert aus: Elisabeth Gänger. Soundcheck, München: Deutscher Taschenbuch Verlag junior, 2004.