Kein „Dschihad made in Germany“ in unseren Schulbüchern?

Warum wissen die meisten Menschen, zumindest in Deutschland, nichts von den Ereignissen, die wir in den letzten Stunden kennengelernt haben? Das liegt möglicherweise daran, dass die Bemühungen der kaiserlichen Regierung, die Muslime zum Aufstand gegen ihre Kolonialherren aufzurufen, weitgehend erfolglos geblieben sind. Ein wichtiger Grund ist aber auch, dass unsere Geschichtsauffassung immer noch „eurozentrisch“ ist, also eine Haltung widerspiegelt, die Euro­pa als Mittelpunkt der Welt versteht. In der Schule lernen wir eine Geschichte kennen, die vor allem auf Deutschland zentriert ist. Das ist in vielen Bereichen sicher sinnvoll, wir wollen ja auch unsere „eigene“, „deutsche“ Geschichte verstehen können. Die Niederlage im Ersten Welt­krieg veränderte Deutschland schließlich so grundlegend, dass alles andere unwichtig erscheinen könnte. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die „deutsche Geschichte“ nur ein kleiner Teil der Globalgeschichte ist, mit der sie in enger Wechselbeziehung steht.

In unseren Schulbüchern wird der Erste Weltkrieg deshalb fast ausschließlich als europäischer, ja sogar als hauptsächlich deutsch-französischer Krieg dargestellt. Erst mit dem Eingreifen der USA 1917 sei er zum Weltkrieg geworden. Doch diese Perspektive ist sehr beschränkt. Zum einen, weil außer in Europa auch in Afrika, Asien und vor allem im Nahen Osten gekämpft wurde. Zum anderen aber auch, wenn man die Herkunft der beteiligten Soldaten betrachtet. Die Tatsache, dass die Wissenschaftler*innen bei ihren Forschungen in den deutschen Kriegsgefangenenlagern auf 250 verschiedene Sprachen stießen, zeigt deutlich, dass es beileibe nicht nur weiße Europäer waren, die hier gegeneinander kämpften. Der Historiker Andreas Frings schreibt dazu:

„Auf britischer Seite kämpften vor allem britisch-indische Soldaten, von denen über den Verlauf des Krieges mindestens eine Million eingesetzt wurde, sowie australische und neuseeländische Einheiten. Für die französische Seite wurden insbesondere Soldaten aus den französischen Kolonien in Afrika […] eingezogen. Auf den afrikanischen Schlachtfeldern wurden Afrikaner zu Hunderttausenden als Träger eingesetzt und in Gefechten verheizt, die nicht minder sinnlos waren als jene in Europa; zugleich wurden auch hier soziale Strukturen zerstört. Auf den Schlachtfeldern des Osmanischen Reiches kämpften Türken, Kurden, Araber und Perser, Sunniten, Alewiten und Schiiten. Damit nicht genug, wurden weltweit Arbeitskräfte angeworben. Fast 200 000 Chinesen wurden seit 1916 zum Arbeiten nach Europa transportiert, ähnlich viele Arbeitskräfte importierte Frankreich aus seinen afrikanischen Kolonien.“[1]

Der Krieg war also tatsächlich von Anfang an ein Weltkrieg und er prägte die Geschichte und die Erinnerungen in vielen Ländern entscheidend. So wird zum Beispiel in der Türkei bis heute an die Schlacht von Çanakkale (1915/1916) erinnert, da dort die Karriere des Gründers der modernen türkischen Republik, Mustafa Kemal „Atatürk“, begann. In Australien und Neusee­land wiederum wird im Gedenken an dieselbe Schlacht - die dort allerdings „Schlacht von Gallipoli“ heißt - jedes Jahr der ANZAC-Day gefeiert. Die bittere Niederlage und die vielen Toten gelten dort als Ursprung eines eigenen Nationalbewusstseins der beiden ehemaligen britischen Kolonien.


[1] Vgl. Andreas Frings. Der Erste Weltkrieg als globaler Krieg, Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 2017, 1.

Arbeitsauftrag

1. Informiert euch über die Folgen des Ersten Weltkriegs für Deutschland und für die Türkei.

2. Formuliert einen Brief an das Kultusministerium eures Bundeslandes, in dem ihr Gründe nennt, warum der „Dschihad made in Germany“ in den Geschichtsunterricht aufgenommen werden sollte.

Quelle

Sachtext von Thomas Felsenstein, 2020.