Ladino: Die „erzwungene“ Geschichte meiner Sprache

Dies ist die deutsche Übersetzung eines Textes von Avi Haligua:

Die Muttersprache meiner Mutter ist nicht die Muttersprache ihrer Mutter. Genauer gesagt, meine Mutter ist die „türkische“ Tochter eines ladino-sprachigen Hauses. Mein Vater ist der „türkische“ Sohn... Ich bin der ältere der beiden Söhne dieser „türkischstämmigen“ sephar­disch-jüdischen Familie. Meine Muttersprache ist Türkisch, ich spreche mit meiner Familie Türkisch. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen „meinem“ Sprachabenteuer und der Notwendigkeit, die türkischen Leser*innen über die Sprache, den Herkunftsort und die Identität des Volkes zu informieren, mit dem sie seit 1492 zusammenleben. Dies ist die „obligatorische“ Geschichte von „meiner“ Sprache.

Ladino ist die Sprache der sephardischen Jüd*innen, die 1492 mit den Muslim*innen zusam­men ins Osmanische Reich übersiedelten, als die Spanier*innen alle Nicht-Christ*innen aus dem Land vertrieben. Es ist ein mittelalterlicher spanischer Dialekt. Ich gehe nicht auf das historische Bild der osmanischen Toleranz ein. Auch nicht auf die Ungerechtigkeiten gegen­über den Nicht-Muslim*innen durch das osmanische Millet-System.[1] Das ist nicht der Gegen­stand unserer Untersuchung.

Die Sprache, die die Sephard*innen bis ins 20. Jahrhundert sprachen, ist nicht mehr Teil ihres gesellschaftlichen Lebens. Nach den Ereignissen in Thrakien,[2] der Vermögenssteuer,[3] usw. sind viele Jüd*innen aus der Türkei ausgewandert. Es ist viel Zeit vergangen, die Schalom-Zeitung war das einzige noch existierende Medium der wenigen verbliebenen Jüd*innen, deren Sprache dann auf das Türkische umgestellt wurde, weil sie den Anschluss an die jungen Generationen verloren hatte.

Alle meine Erinnerungen an Ladino stammen aus meiner Kindheit. Ich kenne nur die Worte der Liebe in dieser Sprache. Wenn ich gestreichelt wurde, war das, was ich hörte, meistens Ladino. Als ich klein war, konnte man diese Sprache nur in den eigenen vier Wänden sprechen.

 

[1] Anmerkung der Redaktion: Bei dem Millet-System handelte es sich um eine religiös definierte Rechtsordnung im Osmanischen Reich. Ihm zufolge hatten nicht-muslimische Religionsgemeinschaften Autonomie und verwalteten sich selbst, sie hatten Anspruch auf den Schutz des Sultans und mussten im Gegenzug eine Steuer abgeben. Der Sultan selbst pflegte hierbei Kontakt mit den jeweiligen Oberen dieser Religionsgemeinschaften.

[2] Anmerkung der Redaktion: Zwischen dem 21. Juni und dem 4. Juli 1934 wurden Jüd*innen in drei Provinzen der türkischen Region Thrakien bedroht, ihre Geschäfte wurden boykottiert und es kam auch zu tätlichen Angriffen. Viele verließen anschließend die Region.

[3] Anmerkung der Redaktion: Die im Jahr 1942 erlassene Vermögenssteuer sollte die wirtschaftliche Not in der Türkei lindern, wurde in der Praxis jedoch vor allem nicht-muslimischen Minderheiten auferlegt.

 

Quelle

Dies ist die deutsche Übersetzung von Auszügen aus Avi Haligua. „Ladino: Benim Dilimin ‚Zorunlu‘ Hikayesi“, 21. Feburar 2008, letzte Aktualisierung am 30. Oktober 2013, https://bianet.org/yazi/ladino-benim-dilimin-zorunlu-hikayesi-105072, zuletzt geprüft am 9. Januar 2024.