„Die Völkerwanderung zu Westdeutschlands Lohntüten hat in diesem Jahr ihren Höhepunkt erreicht. Bereits 1963 waren mehr als 800.000 Gastarbeiter in der Bundesrepublik beschäftigt. Rund drei Viertel von ihnen stammten von der Iberischen Halbinsel, aus Italien, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei […]. Aber trotz des Masseneinsatzes sind – wie auch im vergangenen Jahr – immer noch über 600.000 bundesdeutsche Arbeitsplätze unbesetzt.
Werbekolonnen westdeutscher Arbeitgeber schwärmten über den Kontinent, um dem ausgedorrten Arbeitsmarkt frisches Blut zuzuführen. Von den Gastarbeitern werden sie erwartet wie Verkünder einer neuen Heilslehre. Eine Wiesbadener Werbegruppe, die nach Mazedonien fuhr, wurde von den griechischen Dörflern überschwänglich begrüßt. Noch ehe der VW mit der Wiesbadener Nummer das Haus des Bürgermeisters von Vegora erreicht hatte, mußten die Männer ihr Auto verlassen und sich zu Fuß vorankämpfen.
‚Unsere Griechen müssen die wahrsten Wunderdinge nach Hause berichtet haben‘, notierte später Franz Schmitt für seine Firma, die Chemischen Werke Albert AG. ‚Frauen, Männer und Großväter und Mädchen, alle wollen bei uns in Deutschland arbeiten.‘
Seit einigen Jahren beschäftigt das Wiesbadener Unternehmen Griechen aus der Gegend von Vegora, und Franz Schmitts Trupp war gekommen, Nachschub zu holen. Ganze Sippen pilgerten zu den Bürgermeister-Häusern, sahen den Westdeutschen durch die offenen Fenster bei der Arbeit zu und warteten geduldig, ob einer der Ihren für tauglich befunden werde.
Lehnten die Deutschen einen Bewerber ab, weil er zu jung, zu alt oder nicht kräftig genug war, dann brach sein Clan in Wehklagen aus. Die erfolgreichen Kandidaten wurden von ihren Familien im Triumphzug nach Hause geleitet.
Der Slogan ‚Germania gut‘, den die Werber in Vegora auf Schritt und Tritt hörten, hat in allen unterentwickelten Gebieten Südeuropas und Kleinasiens gezündet. […]
Die Arbeitswilligen kommen auf vielerlei Wegen. Etwa die Hälfte läßt sich durch Werbekommissionen der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung anheuern, die mit insgesamt 222 Beschäftigten in Verona und Neapel, Athen und Saloniki, Istanbul und Ankara sowie in Lissabon und Madrid tätig sind.
Andere werden von fliegenden Rekrutierungskolonnen der Industrie angemustert, vertrauen sich privaten Vermittlungsstellen an oder reisen auf eigene Faust gen Norden.
Sie wollen alle ‚per moneta‘, wegen des Geldes, nach Deutschland, und jeder Trick ist ihnen recht, einen Arbeitsvertrag zu ergattern. In Neapel nahmen Bewerber spielend die Hürde, die die Nürnberger Kommission vor Analphabeten aufgebaut hatte: Die fünf Worte ‚Cinema‘, ‚Teatro‘, ‚Correre‘, ‚Fermasi‘ und ‚Attenzione‘ in den Schulheften der Deutschen konnten bald alle Arbeitskandidaten auswendig.
Viele Südländer legen gleich mehrere Berufszeugnisse vor. Wer zum Beispiel einmal ein Schweißgerät in der Hand gehalten hat, präsentiert sich als gelernter Schweißer. Gerhard Ahl, stellvertretender Leiter des Arbeitsamtes Dortmund, hat die Erfahrung gemacht, daß es unter den Spaniern drei Arten von Maurern gibt: ‚Solche, die tatsächlich den Beruf ausgeübt haben, solche, die einmal einen Ziegelstein bewegt haben, und solche, die Maurer werden möchten.‘
Wer beim besten Willen keine gewerblichen Fähigkeiten nachweisen kann, hat dennoch eine Chance auf Westdeutschlands menschenhungrigen Arbeitsmarkt. Unter den türkischen Hilfsarbeitern des Hüttenwerks Salzgitter finden sich unter anderem ein Kirchendiener, ein Offizier, ein Militärpolizist, ein Gefängniswärter, ein Priester und zwei Religionslehrer.
Die Automation macht’s möglich, auch ungelernte Naturburschen fremder Zunge produktiv zu beschäftigen. Mehr als die Hälfte der Ausländerarmee ist in den hochtechnisierten Sparten der Eisen- und Metallerzeugung sowie der verarbeitenden Industrie tätig.“
„Per Moneta", in: Der Spiegel, 41 (1964), 44–58, https://www.spiegel.de/politik/per-moneta-a-41e741dc-0002-0001-0000-000046175674, zuletzt geprüft am 17. Juli 2023.