Sprache und Wirklichkeit

Sprache schafft Wirklichkeit – diese Maxim findet sich in jeder Form des sozialen Zusammenlebens wieder. Sie limitiert und ermöglicht Grundlegungen unseres Denkens und Handelns, wie es in der Sozialforschung lange bekannt ist. Insbesondere in Bezug auf Lebenswelten, die stark in einzelne Sortierungsmuster wie beispielsweise weiblich*/männlich* unterteilt werden, sind Anpassungen der Sprache zuweilen notwendig, um soziale Gerechtigkeit herstellen zu können.

No Fake News - faktisches Wissen: Was wissen wir über Gender?

Gender bedeutet soziales Geschlecht. Es gibt keinen guten deutschen Begriff, da in der deutschen Sprache für soziales und biologisches Geschlecht nur den Begriff „Geschlecht“ existiert. Im englischen unterscheidet die Sprache grundlegend in sex und gender. Soziales Geschlecht bedeutet, dass Geschlecht in sozialen Räumen zwischen den Interaktionspartner*innen hergestellt wird. Geschlechtsunterschiede sind also nicht einfach vorhanden und das „weibliche*“ und „männliche*“ Verhalten von Natur aus immer da, sondern es gibt bestimmte Normen in der Gesellschaft, welche Rollen Frauen* und Männer* zu spielen haben und die sie über Sozialisation und unbewusste Verhaltensweisen der Erwachsenen erlernen. Diese gesellschaftlich definierten Rollen wurden über die Jahrhunderte oft mit biologischen Begründungen manifestiert (Größe des Gehirns, Gebärfähigkeit und Konstitution der Psyche, Körperbau etc.). Insbesondere Frauen* wurden damit in vielen Abhängigkeiten gehalten (bis 1977 mussten Ehemänner zustimmen, wenn ihre Frau erwerbstätig sein wollte). Dabei können Studien mittlerweile belegen, dass mehr soziale Normen zur Ausprägung von Geschlechterrollen beitragen, als biologische Voraussetzungen. Leider führen aber weiterhin Vorurteile und vermeintliche „logische“ Rollenaufteilungen zu vielen Diskriminierungen. Um dies zu vermeiden, ist es notwendig, sich die eigenen Rollenkonzepte bewusst zu machen mit denen wir aufgewachsen sind.

Der Einfluss der Geschichte

Geschichte bestimmt wie Sprache Wirklichkeit und wurde dabei wiederum von Menschen aufgeschrieben. Sie unterliegt also auch bestimmten Färbungen und Eindrücken der jeweiligen Verfassenden. Um zu verstehen, warum sich Teile der Gesellschaft überhaupt so eindringlich mit der Frage nach Geschlechtergerechtigkeit befasst, sind einige Eckdaten der neueren deutschen Geschichte bedeutsam.

Die 1968er waren Ursprung der zweiten Frauenbewegung in Deutschland. So erwuchs aus der Studentenbewegung, die sich für mehr Gerechtigkeit und weniger Willkür an den Universitäten einsetzte, ein Teil der Frauen*bewegung, begonnen mit der Kinderladenbewegung[1] und der Bewegung für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Die Mitglieder dieser Frauen*bewegung, ebenso wie die Mitglieder der Studentenbewegung waren keine große Mehrheit. Damals gab es gerade einmal 300.000 Studierende in ganz Deutschland und nur ein Drittel davon waren Frauen*. Das ist einer der Gründe, weswegen bis heute die Themen der Geschlechtergerechtigkeit so wenig Anerkennung in der breiten Bevölkerung finden. Dabei macht es volkswirtschaftlich Sinn, die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern und auf tradierte Rollenkonzepte zu verzichten.

Obowhl sich Deutschland, wie viele andere Nationen, mittlerweise dazu verpflichtet hat, die Geschlechtergerechtigkeit zu fördern, sind Frauen* sowohl im Alltag als auch auf struktureller Ebene (in Gesetzen, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Rente etc.) nach wie vor erheblich benachteiligt. Diese Nachteile sind jahrhundertelang erwachsen und unglaublich schwer aus den Handlungspraxen der Gesellschaftsmitglieder zu verdrängen. Deutschland verpflichtete sich in den 1990er Jahren dem Gender-Mainstreaming-Abkommen, in dem festgeschrieben ist, dass Frauen aufgrund ihrer Benachteiligung gefördert werden, damit alle gleiche Chancen auf Teilhabe bekommen. Dazu gehörte zum Beispiel der Ausbau der Kindertagesbetreuung, damit mehr Frauen* berufstätig sein konnten, die Bevorzugung bei gleicher Qualifikation von Frauen* und die Umsetzung sprachlicher Sichtbarkeit von Frauen* in Wort und Schrift. Um der gesellschaftliche Problemlage der Benachteiligung von Frauen* entgegenzuwirken wurden Weiterbildungsmöglichkeiten geschaffen, indem beispielsweise junge Frauen ermutigt wurden in bis dato als atypisch angesehen Bereichen wie den Naturwissenschaften zu arbeiten. Aber trotz aller Maßnahmen lassen sich immer noch starke Benachteiligungen von Frauen* in unterschiedlichen Studien nachweisen (z.B. Gender Pay Gap oder Gender Care Gap). Ausgebremst werden die Bemühungen u.a. durch Argumentationen die betonen, dass es ja auch Benachteiligungen von Männern* gäbe und deswegen eine gezielte Frauen*förderung nicht notwendig sei. Studien belegen, dass vor allem Männer* betroffen sind, die dem gesellschaftlichen Ideal von Männlichkeit* nicht entsprechen, also sich nicht typisch männlich* darstellen. Diese Benachteiligungen sind aufgrund ihrer gesellschaftlichen Manifestation immer noch deutlich geringer, als die der Frauen* und betreffen eine deutlich geringere Anzahl von Personen. Insofern ist noch einiges zu tun, wenn es um die Weiterentwicklung politischer und gesellschaftlicher Strategien zur Gleichberechtigung aller Geschlechter geht.

Auch in der Schule besteht ein klarer Bedarf, Chancengerechtigkeit in Bezug auf Differenzlinien wie Gender, Herkunft, Alter, Klasse etc. herzustellen, damit Schüler*innen früh lernen, Diskriminierungen zu erkennen und zu vermeiden.

Genderreflexion im Spannungsfeld von Dramatisierung und Ent-Dramatisierung

Wir bewegen uns in den alltäglichen Gesprächen über Gender immer in zwei Feldern. So kommt es laut Studien häufig zu einem Wechselspiel von Dramatisierung des Geschlechts (also einer Überbetonung) und der Ent-Dramatisierung des Geschlechts (einer Bagatellisierung). Beide Punkte wechseln sich gegenseitig ab und werden je nach Rahmen aufgerufen.

Beispielsweise wird ein für Lehrkräfte unerklärliches Verhalten oft geschlechtsstereotyp erklärt, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Dies lässt sich gut daran beobachten, wenn Erwachsene davon ausgehen, dass beispielsweise Jungen* mehr Bewegung oder Wettbewerb brauchen. Sie schreiben dies dann allen Jungen* zu und so wird aus einer Annahme eine Naturalisierung aufgrund des Geschlechts. Nicht mehr das Individuum zählt, sondern der Körper bedingt die Persönlichkeitseigenschaften.


Ziel von Genderreflexion ist es nicht, Geschlecht für alle gleich zu machen oder „Frauen*“ und „Männer*“ abzuschaffen, sondern sich diese Überbetonungen und Bagatellisierungen bewusst zu machen. Zudem ist es notwendig, die eigenen Verstrickungen anzuerkennen und stets zu berücksichtigen, dass Stereotype auf gesellschaftlicher, institutioneller wie auch individueller Ebene reproduziert werden. Mit diesem Bewusstsein können Lehrkräfte die Bedingungen von Lernenden einbeziehen und mögliche Geschlechterstereotypisierungen, also die Annahme, dass mit Geschlecht ein bestimmtes Verhalten oder Unvermögen einhergeht, vermeiden. Diese Annahmen werden allzu oft von unseren erlernten Stereotypen beeinflusst, so dass sich Menschen, die mit Kinder und Jugendlichen arbeiten,  immer wieder die Frage stellen müssen: Wie komme ich auf diese Idee?

Um sprachlich reflexiv Lernende begleiten zu können, gibt es die Möglichkeit genderreflexiv zu sprechen und zu schreiben. Wie dies ermöglicht wird, zeigt folgende Übersicht. Relevant ist, dass das Erlernen neuer Gewohnheiten in der Regel etwas Zeit benötigt und Sie mit sich selbst und auch den Lernenden fehlerfreundlich umgehen sollten. Dies erleichtert die Umstellung und ermöglicht ein Sprechen über das Erlernen neuer Gewohnheiten, was oft lange dauert. Wenn Sie selbst soziale Medien nutzen kann es hilfreich sein, ihre Filterblase durch das ergänzende Abonnieren bestimmter Accounts dahingehend zu verändern, dass Ihnen immer wieder automatisch entsprechende Inhalte gezeigt werden. Mögliche Accounts (im Jahr 2022 für die Plattform Instagram) sind z.B. Pinkstinks, maedelsabende, vulvalution magazin, rise and revolt. Für Themen wie Rassismuskritik gibt es auch viele Accounts, die die eigene Timeline mit wenig Mitteln zu einem Bildungsort machen.

Überblick über gängige genderreflexive Schreibweisen

Dichotome Schreibweisen

Inklusive Schreibweisen

 

Beispiel

 

Beispiel

Binnen-I

Die SchülerInnen

Gender Gap

Die Schüler_innen

 

Schrägstrich

Die Schüler/innen

Gender Star

Die Schüler*innen

Paarform

Die Pädagoginnen und Pädagogen

Doppelpunkt Die Schüler:innen

Einklammerung

Schüler(innen) – hier wird das weibliche* eingeklammert, was im gesellschaftlichen Sinn eher problematisch ist

Neutrale Schreibweise[2]
 

Lernende

Lehrkräfte

Päd. Fachkräfte

Lehrende


An der dichotomen Schreibweise wird kritisiert, dass sie beide Begriffe wie gegensätzliche Pole erscheinen lässt, sprich, das Weibliche* und das Männliche* gegenseitige Ausschlusskriterien werden. Was nicht weiblich* ist, ist männlich und anders herum. Dies sieht man insbesondere gut in Werbung und Medien.Dort werden gezielt Geschlechterstereotype genutzt, um einen größeren Profit zu machen. Inklusive Schreibweisen zeigen einerseits, dass mehr denkbar ist als klassisches geschlechtertypisches Verhalten, andererseits bieten sie einen Ansatzpunkt, um Kritik am heteronormativen System zu üben. Wenn Sie diese Schreibweise benutzen so zeigen Sie Anderen, dass Sie sich der unterschiedlichen Ausprägungen von Frauen* und Männern* bewusst sind und auch wissen, dass diese nicht aufgrund ihres Körpers bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten besitzen. Die inklusiven Schreibweisen stärken einen individuellen Blick auf die einzelnen Personen.

  • Artikel sind weiblich* zu wählen, da diese Weiblichkeit* in Sprache sichtbar machen (alternativ dürfen die Artikel in der gleichen Form gegendert werden die*der | die_der | die/der – hierbei wird immer der weibliche Artikel zuerst angeführt.
  • Groß- und Kleinschreibung ist zu beachten.
  • Einheitliche Genderformen sind zu wählen und am Anfang einer wissenschaftlichen (Prüfungs-)Arbeit zu begründen.
  • Um auch Rollenkonzepten wie Frauen*, Männer*, Mädchen* und Jungen* zu reflektieren, ist es auch hier möglich ein Sternchen einzufügen. Dies drückt aus, dass die Autor*in voraussetzt, dass es unterschiedliche Typen von Frauen* und Männern* gibt und diese auch andere Persönlichkeitseigenschaften und Bedürfnisse aufweisen können als es stereotyp zugeschrieben wird.

Denken Sie daran: Sollte Sie aus Ihrer jetzigen Perspektive gendern in der „Lesbarkeit“ stören, genauso stört es andere in ihrem „Lesefluss“, sollten Sie nicht gendern.


[1] Die Kinderladenbewegung richtete sich gegen die autoritäre Erziehung in der bürgerlichen Kleinfamilie. Eltern gründeteten elbst ihre eigenen partizipativen und inklusiven Kindertagesstätten, die fes sich zum Ziel setzten, freiere und kritikfähigere Kinder herauszubilden.

[2] Während die anderen Schreibweisen auch im Singular funktionieren, können die Schreibweise der Paarform und die neutrale Schreibweise nur im Plural benutzt werden.