Analyse: Der Islam als Antithese Europas

Europäer entwickelten im Laufe ihrer spannungsreichen Begegnung mit ihren muslimischen Nachbarn in Nordafrika und im Vorderen Orient unterschiedliche Diskurse, die den Islam und die Muslime als "das Andere" beschrieben. Diese Alteritätsdiskurse dienten der eigenen Selbstvergewisserung und transportierten Vorurteile und Stereotypen, die sich als äußerst langlebig erweisen konnten, aber auch einem steten Wandel unterlagen. Dieser Überblicksartikel analysiert das auf religiösen Kriterien beruhende und vom Gefühl der Bedrohung durch das Osmanische Reich geprägte Islambild der Renaissance- und Reformationszeit und den Wandel dieses Bildes um 1700, als eine auf das Exotische gerichtete "Orientbegeisterung" entstand und säkulare Vergleichskriterien in den Vordergrund traten. Schließlich werden auch die vom europäischen Überlegenheitsdenken geprägten orientalistischen Diskurse des 19. Jahrhunderts untersucht, die Europa und den Islam als zwei gegensätzliche Zivilisationen definierten. Von der 'Türkengefahr' zu Exotismus und Orientalismus: Der Islam als Antithese Europas (1453–1914)? von Felix Konrad  Europäer entwickelten im Laufe ihrer spannungsreichen Begegnung mit ihren muslimischen Nachbarn in Nordafrika und im Vorderen Orient unterschiedliche Diskurse, die den Islam und die Muslime als "das Andere" beschrieben. Diese Alteritätsdiskurse dienten der eigenen Selbstvergewisserung und transportierten Vorurteile und Stereotypen, die sich als äußerst langlebig erweisen konnten, aber auch einem steten Wandel unterlagen. Dieser Überblicksartikel analysiert das auf religiösen Kriterien beruhende und vom Gefühl der Bedrohung durch das Osmanische Reich geprägte Islambild der Renaissance- und Reformationszeit und den Wandel dieses Bildes um 1700, als eine auf das Exotische gerichtete "Orientbegeisterung" entstand und säkulare Vergleichskriterien in den Vordergrund traten. Schließlich werden auch die vom europäischen Überlegenheitsdenken geprägten orientalistischen Diskurse des 19. Jahrhunderts untersucht, die Europa und den Islam als zwei gegensätzliche Zivilisationen definierten. (...)
Das Islambild in der Zeit der "Türkengefahr" Die Eroberung der byzantinischen Metropole Konstantinopel durch die osmanischen Türken im Mai 1453 löste im christlichen Europa, vor allem in Italien einen Schock aus. Zwar war das Byzantinische Reich seit langem keine Großmacht mehr, aber das Prestige und die Bedeutung von Byzanz als "Zweites Rom" war nach wie vor groß. Die Berichte über den Fall Ostroms verbreiteten sich rasch und verstärkten das Negativbild, das man sich seit den Kreuzzügen von den Muslimen machte. Sie enthielten ausführliche Schilderungen über die bei der Eroberung begangenen Gräuel (sogenannte "Türkengräuel"), die in der Folgezeit als Stereotypen in den Diskurs über die Osmanen einflossen und die Wahrnehmung einer "Türkengefahr" und die aus ihr genährte "Türkenfurcht" prägten. Diese Berichte wurden sehr schnell propagandistisch genutzt, um zu einem neuen Kreuzzug als "Türkenkrieg" aufzurufen. Bereits 1454 hielt Kardinal Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der spätere Papst Pius II. (1458–1464), als kaiserlicher Legat auf dem Reichstag in Regensburg eine Türkenkriegsrede. Als einer der einflussreichsten Redner seiner Zeit wies er auf die welthistorische Dimension der Türkengefahr hin, auf die kirchengeschichtliche, machtpolitische und strategische Bedeutung Konstantinopels und appellierte an moralische und politische Grundwerte der christlichen Fürsten. (...) Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde es üblich, Türken und Muslime gleichzusetzen: Wenn in frühneuzeitlichen Texten zu lesen ist, dass jemand "Türke geworden" sei, so bedeutete dies, dass er zum Islam übergetreten war. Die ethnische Kategorie "Türke" war also gleichbedeutend mit der religiösen Kategorie "Muslim". Dieser Sprachgebrauch entsprach weitgehend der ethnischen Beschreibung der Muslime im Mittelalter als "Sarazenen", ein Begriff, der in der Frühen Neuzeit zunehmend außer Gebrauch kam. Das Oppositionspaar (europäische) Christen vs. Türken löste nun die mittelalterliche Dualität Christen vs. (heidnische bzw. häretische) Sarazenen ab. (...) Eine (...) These, die sich (...) eignete, um die Türken als das Fremde und Andere zu beschreiben, setzte sich ab Ende des 15. Jahrhunderts durch. Dies war die These von der skythischen Herkunft der Türken. Sie bot sich an, um die Osmanen als Barbaren hinzustellen, die mit Rom, dem Christentum und Europa nichts gemeinsam hatten, denn mit dem antiken Reitervolk der Skythen verband sich das ganze Repertoire der Barbarei von der Unzivilisiertheit über Grausamkeit und Wollust bis zur gänzlichen Widerwärtigkeit. (...) In den Schriften und Reden italienischer Humanisten der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde "Europa" als eine Einheit entworfen, die in scharfem Gegensatz zu den Türken stand. Die Rückführung der Türken auf das Barbarentum der Skythen, die Umdeutung des ersten Kreuzzugs in ein europäisches Unternehmen, das der Verteidigung gegen Barbaren diente, sowie die Übertragung von politisch-moralischen Verpflichtungen auf die Großeinheit "Europa" als "Vaterland" in Türkenkriegsreden konstruierten Europa als eine Identität stiftende Einheit. Damit wurde "Europa" eine Bedeutung zugewiesen, die der Begriff zuvor nie gehabt hatte, und dies in Opposition zu den Türken. Nach der Eroberung Konstantinopels 1453 ist die erste (erfolglose) Belagerung Wiens durch die Osmanen im Herbst 1529 das zweite wichtige Stichdatum, das die Formierung des Türkendiskurses entscheidend mitprägte. (...) Die erste Belagerung Wiens löste im deutschen Sprachraum, aber auch in anderen Gegenden Europas, eine wahre Flut von "Türkendrucken" aus. Die mit der osmanischen Expansion Richtung Mitteleuropa ziemlich gleichzeitige Verbreitung der Buchdrucktechnik ist dann auch neben Türkengefahr und Türkenfurcht als wichtige Voraussetzung für das Zustandekommen des frühneuzeitlichen Islamdiskurses zu sehen. Erst der Buchdruck führte zu einer Kommunikationsverdichtung, die es ermöglichte, ein bestimmtes Bild von den Türken und den Muslimen innerhalb relativ kurzer Zeit und über große Distanzen hinweg zu verbreiten. Der Buchdruck trug die Türkenfurcht aus den unmittelbaren Grenzgebieten, die bereits seit dem späten 15. Jahrhundert unter wiederkehrenden Kriegs- und Beutezügen, vor allem von osmanischen Hilfstruppen zu leiden hatten, ins Heilige Römische Reich und darüber hinaus. Druckschriften über die Türkengefahr schilderten angebliche oder wirkliche Kriegsgräuel in grellen Farben; oft flochten sie auch apokalyptische Motive mit ein. Die Türken erschienen als unmittelbare und große Gefahr für die sozialen, politischen und religiösen Verhältnisse, als eine Gefahr, der alle gesellschaftlichen Gruppen ausgesetzt waren. (...) Der Diskurs der Türkenfurcht konnte vielerlei Funktionen übernehmen: Er konnte genutzt werden, um Steuererhebungen zu legitimierten (Türken- und Kriegssteuern), um den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und das Vertrauen in sie zu fördern und um die Stände zu kontrollieren. Er konnte auch eingesetzt werden, um Frömmigkeit und kirchenkonformes Verhalten zu fördern. So gesehen, kam der propagandistischen und politischen Instrumentalisierung der Türkenfurcht eine erhebliche Rolle bei der Stabilisierung der politischen und sozialen Ordnung zu. Das Türkenbild des 16. Jahrhunderts war voller Topoi und Stereotypen. Nicht religiös oder wenig religiös geprägte Texte und Bilder verbreiteten in erster Linie den Topos der Grausamkeit. Die Schilderungen von Türkengräueln (Mord, Vergewaltigung, Verschleppung von Gefangenen, Zerstörungen, Brandschatzung, Plünderungen, Schändung von Kirchen etc.) dienten dazu, die Bereitschaft zum Kampf gegen die Osmanen zu wecken. Die Grausamkeiten des Feindes konnten auch mit biblischen Motiven kombiniert werden, so mit der Ikonographie des Betlehemer Kindermordes. Die Türken und damit die Muslime wurden so zum Inbegriff des Bösen stilisiert. Solche Schreckbilder vom "Erbfeind der Christenheit" waren nicht nur im Heiligen Römischen Reich, in Italien und anderen Gebieten an der Grenze zum Osmanischen Reich verbreitet, sondern wahrscheinlich in ganz Europa. (...) Reiseberichte und ethnographische Schriften des 16. Jahrhunderts fügten dem Alteritätsdiskurs über die Muslime und Türken weitere Facetten hinzu und brachten wichtige Elemente für dessen Weiterentwicklung. Reisende thematisierten in ihren Publikationen weniger die Türkengefahr als die von ihnen beobachteten kulturellen und sozialen Gegebenheiten im Osmanischen Reich, vor allem natürlich solche, die sich von jenen in ihrer Heimat unterschieden. (...) Reiseberichte des 16. Jahrhunderts berichteten zuweilen auch über positive Aspekte, die sie in Staat und Gesellschaft des Osmanischen Reiches beobachteten. (...) Stereotypen blieben aber in vielen Reiseberichten erhalten, so wurde die Herrschaft des Sultans vielfach als Tyrannei beschrieben, die vor allem die christlichen Untertanen treffe. Oder es entstanden neue Stereotypen, wie das Bild des starken Sultans und des unschlagbaren Staatswesens. Das Islambild im Zeitalter der Renaissance und der Reformation war von der Türkengefahr geprägt. Es transportierte einerseits althergebrachte religiöse Topoi (der Islam als Häresie, als Macht des Antichristen), andererseits ethnische Stereotypen (die Türken als Barbaren), die ebenfalls in einer langen Tradition standen. Immer erschienen die Türken als das fundamental Andere und als eine existentielle Gefahr für das Eigene. (...) 

Das Islambild in den Diskursen der Aufklärung Das europäische Türken- und Islambild, das sich im 15. und 16. Jahrhundert herauskristallisierte, war recht stabil. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts begann sich jedoch eine Veränderung abzuzeichnen. Die Voraussetzungen dafür sind einerseits in der distanzierteren Sicht und dem neuen Wissen zu suchen, das Reiseberichte vermittelten, andererseits auf der militärisch-politischen Bühne. Die Niederlagen der Osmanen bei der zweiten Belagerung von Wien (1683) und im "Großen Türkenkrieg" (1683–1699) (...) markierten das Ende der osmanischen Expansionskraft gegen Mitteleuropa. "Türkentriumph" und "Türkenspott" lösten in den habsburgischen Ländern Türkenfurcht und Türkengefahr ab, bestätigten aber gleichzeitig das Negativbild vom Türken. Während in den wenig gebildeten und sozial tiefer stehenden Schichten das Feindbild des Türken noch lange konstant blieb, zeichnete sich in den Vorstellungen der Oberschicht und der Gebildeten allmählich ein Wandel zu einem positiveren Bild ab. Dieser Wandel vollzog sich zunächst im Westen Europas. In der Umgebung des Hofes Ludwigs XIV. (1638–1715) kamen "Turquerien" auf, im französischen Theater und in der Literatur traten galante Mauren und muslimische Helden auf und das muslimische Spanien wurde mit positiven Konnotationen besetzt. Die Türken, Mauren und alles Orientalische wurden in der Elitekultur als etwas Exotisches betrachtet. Diese auf das Exotische gerichtete "Orientbegeisterung" lässt sich in Frankreich mit der osmanischen Gesandtschaft nach Paris 1669 und mit einer marokkanischen Gesandtschaft wenig später ansetzen. (...) Einen Höhepunkt erreichte sie kurz nach 1700, als Antoine Gallands (1646–1715) Übersetzung der Märchen aus 1001 Nacht (1704–1711) einen Standard des exotischen Orientbildes setzte. (...) Mit der Frühaufklärung begann sich in der Wissenschaft eine objektivere und positivere Sichtweise des Islam als Religion zu etablieren. (...) Viele Intellektuelle der Aufklärungszeit sahen den Islam als eine tolerante Religion oder strichen seine Rationalität und Einfachheit heraus und stellten diese in Kontrast zum Christentum mit seinen vernunftmäßig schwer fassbaren Dogmen. Die Historisierung des Islam und das vielseitige Interesse, das Vertreter der Aufklärung dem Islam entgegenbrachten, hatten aber auch Kehrseiten. (...) Denis Diderot (1713–1784) (...) andere Aufklärer wie Voltaire und Simon Ockley (1678–1720) schätzten zwar die Qualitäten der Araber und Muslime des Mittelalters und lobten deren Beitrag zu Philosophie, Medizin und anderen Wissenschaften, gleichzeitig beklagten sie aber die angeblichen Verwüstungen, die der muslimische Fanatismus im Nahen Osten verursacht habe. Akzentuiert wurde diese Sicht auf die muslimische Vergangenheit durch die Wahrnehmung eines politischen, militärischen und wirtschaftlichen Niedergangs des Osmanischen Reiches seit der Niederlage vor Wien. Der Kontrast zwischen glorreicher Vergangenheit und düsterer Gegenwart konstruierte eine neue Alterität: Nun konnte argumentiert werden, dass die Muslime nicht mehr zeitgemäß seien, da sie am Fortschritt, den Europa durch die Aufklärung erziele, nicht partizipierten. Als Argument für den angeblich desolaten Zustand der Länder im Nahen Osten wurde oft der Islam angeführt, da er wissenschaftsfeindlich sei und Aufklärung und Fortschritt verhindere. Damit war der Rahmen für ein neues Bild geschaffen, das Bild des fanatischen, unwissenden, obskurantistischen und rückständigen Muslim als Gegenbild des aufgeklärten und fortschrittlichen Europäers. Ein weiteres wichtiges Vorurteil neben Fanatismus und Wissenschaftsfeindlichkeit, das sich in jener Zeit etablierte, war Despotismus. Die Verwendung der Begriffe "Despotismus" und "orientalischer Despotismus" zur Charakterisierung politischer und gesellschaftlicher Systeme in Asien, insbesondere im Nahen Osten, setzte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts durch. (...) Die Osmanen wurden als Gegenteil des Eigenen und ihr Reich als "die größte Tyrannei auf Erden" charakterisiert. (...) Immer wieder wurde auch eine Verbindung zwischen der im islamischen Recht zulässigen Polygamie und dem Despotismus hergestellt, so bereits von Montesquieu, der den Harem als eine Despotie im Kleinen beschrieb. Laut Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760–1842) baute der Despotismus auf der Polygamie auf: Sie begründe einen "Familiendespotismus", da sie die Frau zur Sklavin das Mannes mache, der dadurch zum Despoten werde. Despotismus komme also von unten, aus der Familie, nicht von oben, vom Herrscher. Daher sei es in muslimischen Gesellschaften unmöglich, dass sich häusliche Tugenden entwickeln, und daher könne es auch kein Bürgerbewusstsein geben. Hier scheint ein viel älteres Argumentarium auf: Bereits Luther hatte aufgrund der Polygamie die soziale Ordnung der Muslime als illegitim dargestellt. Polygamie, Unfreiheit der Frauen sowie ihre Abschottung im Harem galten gemeinhin als ein "Makel des Islam", dem die moralisch höherwertige Monogamie in Europa gegenübergestellt wurde. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Despotismustheorie auch herangezogen, um der bestehenden Herrschaft im Nahen Osten die Legitimität abzusprechen. Dies tat zum Beispiel Constantin-François Chassebœuf de Volney (1757–1820). Volney zufolge war das Osmanische Reich ein illegitimer Ausbeutungsstaat. Die ganze Bevölkerung sei der Willkür und dem ausbeuterischen Despotismus der militärischen Eliten schutzlos ausgeliefert. Despotismus und Ausbeutung hätten dazu geführt, dass die Länder des Nahen Ostens gänzlich verödet seien. (...) Der Islam war für ihn ein Fortschrittshindernis, der Koran überwiegend ein "vages Gewebe sinnentleerter Phrasen", eine "Ansammlung kindischer Geschichten, lächerlicher Fabeln", in denen der Geist des Fanatismus wehe, der seinerseits den "vollständigsten Despotismus" hervorbringe. (...) Das 18. Jahrhundert stellte so einen neuen Alteritätsdiskurs zur Verfügung. Der Islam und die islamisch geprägten Gesellschaften wurden nicht mehr aufgrund religiöser Parameter als das Andere definiert, sondern aufgrund säkularer. Der alte, aus dem Gefühl der militärischen Bedrohung und Unterlegenheit heraus generierte Alteritätsdiskurs wich einem Überlegenheitsdiskurs. Diesem lag ein Set von Stereotypen zugrunde, das den muslimischen Orient aufgrund von Despotismus, Fanatismus, Wissenschaftsfeindlichkeit und Rückständigkeit von Europa ab- und ausgrenzte, ein Set von kulturellen Vorurteilen, das sich im 19. Jahrhundert zu der These verfestigte, dass Islam und Moderne, Europa und Islam nicht miteinander kompatibel seien. Im Kontext der Entstehung der europäischen Hegemonie des späten 18. Jahrhunderts begann man in Europa, "Orient" und "Okzident" als zwei unvereinbare und gegensätzliche Zivilisationen zu sehen. Dabei war bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts niemandem so recht klar, wo die geographischen Grenzen Europas liegen sollten, geschweige denn die kulturellen. Das Osmanische Reich wurde jedoch zunehmend aus Europa ausgegrenzt. (...) Die Selbstdefinition der Europäer erfolgte so stets in Relation zum Anderen, im Kontrast zu Nicht- Europa. Europa wird zur Heimat von Freiheit, Recht, Rationalismus, Wissenschaft, Fortschritt, intellektueller Neugierde, Unternehmer- und Erfindungsgeist, alles Kernwerte der Europäer, die zu den alten Griechen zurückverfolgt werden, und die sie vom Orient, vom Islam unterscheiden.
Das Islambild im Zeichen von Imperialismus und Orientalismus Im Sommer 1798 marschierten französische Truppen unter Napoleon Bonaparte (1769–1821) in Ägypten ein. Obwohl die Besetzung nur knapp drei Jahre dauerte, markiert sie eine Epochenschwelle in der europäischen Wahrnehmung des Nahen Ostens und des Islam. Zum ersten Mal seit den Kreuzzügen bemächtigten sich Euro- päer eines muslimischen Kernlandes. In der legitimatorischen Rhetorik, die das revolutionäre Frankreich für dieses koloniale Unternehmen ins Feld führte, schwang der Diskurs der Aufklärung mit: Die Franzosen erhoben den Anspruch, Ägypten vom Joch der mamlukischen und osmanischen "Despoten" zu befreien und das Licht der Aufklärung und die Freiheit in den Orient zu tragen. (...) In derselben Zeit begann sich das Paradigma der überlegenen europäischen Zivilisation zu verfestigen. Auf akademischer Ebene entstand die große Erzählung vom Aufstieg Europas, das bald als das global gültige Modell galt. Der muslimische Nahe Osten und das Osmanische Reich wurden aus dieser Erzählung ausgeklammert. Johann Gottfried Herder (1744–1803) beschrieb in den 1780er Jahren die Osmanen als Fremde, die nicht nach Europa gehörten, da sie nicht nur unwillig, sondern auch unfähig seien, sich der europäischen Kultur anzupassen. Rund dreieinhalb Jahrzehnte später schrieb Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1822–1823) die Weltgeschichte als Geschichte der Vernunft, die zu sich selber findet, wobei der Lauf der Geschichte von Ost nach West führe. Den Orient verband er mit Stagnation und Immobilität; die Geschichte des Islam sah er nur insofern als relevant an, als die Muslime in der lange zurückliegenden Blütezeit ihrer Kultur die europäischen Völker mit Ideen und Prinzipien inspiriert hätten. Jedoch erst mit deren Aneignung durch die Europäer sei es möglich geworden, dass diese sich entfalteten und zur Geltung kamen. So erscheint der Rest der islamischen Geschichte als Niedergang und der Islam als irrelevant für die moderne Geschichte. (...) Auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene sind die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts durch die Festigung der europäischen Hegemonie über außereuropäische Gesellschaften und die Stärkung der Kolonialimperien, insbesondere des britischen, gekennzeichnet. Am Rande Europas erlangte die "Orientalische Frage" zunehmend Brisanz, nämlich die Frage, wie viel vom Osmanischen Reich – das nun zum "Kranken Mann am Bosporus" wurde – zu erhalten sei und welche europäische Macht wie viel Einfluss in den Ländern des Sultans ausüben sollte, ohne das europäische Mächtegleichgewicht zu gefährden. Im Zuge des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821–1830), der in Europa eine Welle von antiosmanischer Propaganda und Begeisterung für die Sache der Griechen (Philhellenismus) auslöste, verschlechterte sich das Bild der Türken. Sie wurden – wie im 15./16. Jahrhundert und durchaus konsistent mit der im akademischen Diskurs betriebenen Ausgrenzung der Osmanen aus der europäischen Geschichte – zu uneuropäischen Barbaren stilisiert. (...) Die letzten beiden Jahrzehnte des 19. und die beiden ersten des 20. Jahrhunderts waren auch die Zeit, in der fast alle muslimischen Länder der europäischen Kolonialherrschaft unterworfen wurden; jene Staaten, die ihre staatliche Unabhängigkeit wahren konnten (Osmanisches Reich, Persien, Afghanistan) befanden sich oft in halbkolonialen Abhängigkeiten von einer oder mehreren europäischen Mächten. Im 19. Jahrhundert kursierten zahlreiche Stereotypen, die das Bild vom Islam und von den Muslimen zum Teil bis heute mitprägen. Der Islam kenne keine Trennung von Staat und Religion, eine säkulare Gesellschafts- und Staatsordnung sei für Muslime also nicht denkbar; in muslimischen Gesellschaften stagniere das Wissen und sei nur durch die Adaption europäischer Ideen und Normen wandelbar (Europäisierung /Verwestlichung sei notwendig); der Islam unterdrücke die Frauen; der Islam sei unmodern. Besonders raumgreifend war das Stereotyp, dass der Islam das Hindernis sei, das Modernisierung, Aufklärung und Fortschritt vom muslimischen Orient fernhalte, dass dies der Grund sei, dass er politisch, militärisch, wirtschaftlich und schließlich auch kulturell unterlegen sei. Den negativen Vorstellungen vom Orient standen jedoch auch positive gegenüber: so die Vorstellung eines poetischen Orients als unverdorbenem Quell von Mystik und Spiritualität, nach dem sich viele Europäer sehnten. (...) Der Orient war Projektionsfläche von Wünschen und Ängsten zugleich. Und wahrscheinlich ist es gerade diese Janusköpfigkeit, die das Orientbild des 19. Jahrhunderts als Ganzes auszeichnet. Wenn Europäer auf der Suche nach dem poetischen Orient in den Nahen Osten gelangten (ab dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts kann man von Tourismus sprechen), führte die Begegnung mit dem realen Orient allenthalben zu Enttäuschung. Man fand keine Märchenpaläste, ja, in Kairo gab es nicht einmal "echte" orientalische Cafés, wie Gérard de Nerval (1808–1855) beklagte: Orientalische Cafés, die seinen Vorstellungen von Exotik und Opulenz entsprachen, könne man nur in Paris finden! Ein anderes Beispiel ist die französische Journalistin und Schriftstellerin Louise Colet (1810–1876), die 1869 im Rahmen der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Suezkanals am Hof des Khediven von Ägypten weilte. Sie zeigte sich maßlos enttäuscht, dass ihr dort Theater- und Operaufführungen alla franca geboten wurden. – Der Orient, den sie erwartete, sah ganz anders aus: säbelbewehrte Orientalen in wehenden Gewändern, Kaftan, Pelz und Pantoffeln, die auf Perserteppichen und reich bestickten Kissen sitzen, Pfeife rauchen und sich bei "babylonischen Illuminationen" nubischer Sänger und Tänzer erfreuen. Die Desillusionierung begünstigte die Verwendung des Orients als Projektionsfläche für alles Negative, und es war ein Leichtes, den Islam für die negativen Eigenschaften des Orients verantwortlich zu machen. Althergebrachte Feindbilder wurden reanimiert, so lässt sich in der deutschen Unterhaltungsliteratur bereits in den 1820er Jahren eine Dominanz negativer, zum Teil religiös konnotierter Stereotypen beobachten, die die moralische Überlegenheit des Christentums und Europas postulierten. Zu diesen Stereotypen gehörten Grausamkeit und Despotismus, religiöse Militanz und Fanatismus, Trägheit und Unordnung, Wollust und Sinnlichkeit (verkörpert von Harem und Polygamie). (...)  
Ausblick Stereotypen und Klischees vom Islam erweisen sich einerseits als zählebig, unterliegen andererseits aber einem Wandel in Raum und Zeit. Die Abgrenzung vom Islam als Gefahr für das Eigene und die damit verbundene Selbstvergewisserung können jedoch als eine Konstante angesehen werden, die die europäische Identitätskonstruktion mitgestaltete und mitprägte. (...)

Arbeitsauftrag

Hinweis:
Bitte benutze bei der Bearbeitung ein Fremdwörterlexikon und notiere offene Fragen auf einem separaten Blatt. Diese offenen Fragen können zu Beginn der kommenden Unterrichtsstunde in der Klasse besprochen werden. 
 
1.  Bearbeite neben der Einleitung und dem Ausblick des Textes nur einen der drei großen Themenbereiche des Textes (entweder „Das Islambild in der Zeit der ‚Türkengefahr’“,„Das Islambild in den Diskursen der Aufklärung“ oder „Das Islambild im Zeichen von Imperialismus und Orientalismus“). 2.  Notiere für den von Dir bearbeiteten Textabschnitt jeweils in Stichpunkten: Warum wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt ein negatives Bild vom Islam/von Türken/vom „Orient“ gezeichnet? Mit welchen Begriffen wurde dabei genau gearbeitet? Wie sah ein solches Negativbild aus bzw. wie wurde es konkretisiert? Gab es auch positive Darstellungen? 3.  Ordne Deine Stichpunkte chronologisch und vergleiche diese Stichpunkte zu Beginn der kommenden Unterrichtsstunde zunächst mit einem Mitschüler/einer Mitschülerin, die sich mit dem gleichen Textbaustein beschäftigt hat! 4.  Suche in dieser Paarkonstellation zwei weitere Paare, die jedoch die beiden anderen Textbausteine bearbeitet haben. Erläutert Euch bitte gegenseitig Eure Stichpunkte. 5.  Fertige einen Zeitstrahl an, auf dem Du anhand Deiner Stichpunkte die Entwicklung von orientalistischen Zuschreibungen darstellst. Bereite Dich darauf vor, diesen Zeitstrahl der gesamten Lerngruppe präsentieren zu können.

Quelle

Konrad, Felix: Von der 'Türkengefahr' zu Exotismus und Orientalismus: Der Islam als Antithese Europas (1453–1914)?, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego.eu/konradf-2010-de URN: urn:nbn:de:0159-20101025120 [2017-03-07]. Gekürzte Fassung – mit freundlicher Genehmigung. Der Originaltext ist lizensiert unter: CC by-nc-nd 3.0.