Interviewausschnitt mit Dr. Nadjma Yasseri

Ich glaube, das Adjektiv Muslima habe ich bekommen am 11. September, davor war ich alles Mögliche: davor war ich die Österreicherin in Deutschland, die Perserin in Österreich, die Bayerin, die Inderin in Bayern, also alles was mir da angedichtet wurde, was ich sein könnte. Aber Muslimin wurde ich am 11. September. Ab dem Tag haben mich alle darauf angesprochen. Ab dem Tag haben mich alle gefragt: "Was bist Du?" Vorher war Muslim sein nur in Verbindung mit Abendessen und Schweinefleisch essen oder Alkohol trinken, das war das einzige, was die Leute irgendwie von Moslem sein irgendwie wussten. [...] Dadurch dass die Weltpolitik sich so entwickelt hat seit dem 11. September. Nach dem 11. September ist dieses Moslem-Sein in den Vordergrund getreten, wenn ich jetzt etwas sage, auf einer Konferenz einen Vortrag halte als Expertin des Max-Planck-Instituts, wurde ich früher nie wahrgenommen, als "Sie sagt das, weil sie Moslem ist" oder es wurde mir nie eine Frage gestellt, "Sie als Muslima, wie beurteilen Sie dies?". Und ich mag diese Fragen insofern nicht, weil ich mir denke, welcher Teil von meiner Rede hat Dich darauf gebracht, mich nach meiner Religion/also ich rede über irgendein juristisches Thema und die Frage kommt: "Sie als Muslima, wie empfinden Sie das?" Als würde man als Muslima besonders empfinden müssen. [...] Ja, sicher, ich empfinde Dinge auch, weil ich Moslem bin, oder weil meine Eltern Moslems sind, oder weil ich das Gefühl habe, dadurch dass der Islam dauernd angegriffen wird, von den Muslimen und den Nicht-Muslimen, dass ich den irgendwie in Schutz nehmen muss. Also das Gefühl, dass man den Teil der Identität irgendwie verteidigen muss, der grade da angegriffen wird, aber vieles was man macht, und ich glaube das, betrifft sehr viele Leute, die aus einer islamischen Gesellschaft kommen oder aus einem Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, empfinden das auch so, dass ihre Reaktionen nicht unbedingt damit zu tun haben, dass sie Moslems sind, sondern dass sie Migranten sind, und einer Minderheit angehören. [...] Es ist ein Minderheitenbewusstsein. Man wird immer wieder daran erinnert, dass man anders ist, dass man nicht dazu gehört.

Arbeitsauftrag

1. Charakterisiere die dem Text zugrunde liegende Auffassung vom "muslimisch Sein" unter Berücksichtigung der angesprochenen Perspektiven. 2. Erkläre, wie Zugehörigkeit erlebt/verstanden wird und belege dies am Text. 3. Arbeite die Zugänge oder Positionen zu Glaube und religiöser Praxis heraus. 4. Beurteile den Stellenwert des gesellschaftlichen Kontextes für ihre Erfahrung einerseits und für ihre Wahrnehmung andererseits.

Quelle

 Interview Dr. Ursula Günther.