Migration und kulturelle Differenz

Werner Schiffauer
 

(...) Ich versuche, die Frage zu beantworten, inwiefern man hier und heute sinnvoll von kultureller Differenz oder kultureller Identität reden kann. Gibt es so etwas wie „türkische Normen und Werte“ oder ein „islamisches Weltbild“?

Um sich dieser Frage zu nähern, müssen wir zunächst unseren Sprachgebrauch überprüfen. In der Alltagssprache reden wir von Kultur wie von einem „Ding“, das man hat oder nicht hat, das gerettet, bewahrt oder zerstört werden, das mitgebracht oder weitergegeben werden kann. Dieser Sprachgebrauch ist nur teilweise sinnvoll. Er ist in Bezug auf „Kulturgüter“ angebracht, Gegenstände, Gebäude und Kunstwerke. Komplexer liegt die Sache schon bei Sprache, Musik, Ritualen – also kulturellen Formen, die (bis auf wenige Ausnahmen) mit gelebter Praxis verbunden sind. Aber auch diese Bereiche sind durch relativ feste und dauerhafte Formen ausgezeichnet und lassen sich deshalb aneignen, besitzen und eben auch weitergeben. Problematisch und missverständlich wird der verdinglichte Sprachgebrauch jedoch in Bezug auf „Alltagskultur“, also in Bezug auf Normen, Wertvorstellungen, Deutungsmuster und Weltbilder(…).

Im Grunde ist bereits der substantivische Wortgebrauch hier unangemessen: Man „hat“ keine Werte, sondern man bewertet bestimmte Handlungen und Ereignisse; man „hat“ keine Normen, sondern findet etwas richtig oder falsch; man hat keine Deutungsmuster, sondern man interpretiert und deutet bestimmte Vorgänge. „Normen“, „Werte“ und „Deutungsmuster“ sind meist in Alltagshandlungen verankert. Nur unter bestimmten Umständen und in bestimmten Situationen (oft im Erziehungsprozess) macht man sie explizit zum Thema – und dann nicht selten in einer idealisierten Form. Dieser ganze Bereich zeichnet sich durch Unklarheit, innere Widersprüchlichkeit und hohe zeitliche Dynamik aus. Man sieht heute Dinge anders als gestern; man tritt verbal für Werte ein, die man in der Praxis oft nicht oder nur teilweise befolgt; man weiß „eigentlich“ Sachen – will sie aber nicht wahrnehmen usw.. Wenn man dieser Komplexität gerecht werden will, muss man von Kultur als Prozess sprechen. Man kann nicht davon ausgehen, dass Normen und Werte in einer vergleichbar festen Form wie Kulturgüter oder auch Sprache existieren, sondern muss in Rechnung stellen, dass sie immer wieder neu „gemacht“ oder zumindest neu interpretiert werden.

Was bedeutet das für „kulturelle Differenzen“? Die Tatsache, dass Kultur komplex und fließend ist, schließt ja noch nicht per se aus, dass es Unterschiede zwischen Kulturen gerade auch in Hinblick auf Normen und Werte gibt. Schließlich setzen sich die einen, sagen wir, mit einer katholischen Sozialmoral auseinander und die anderen mit einer islamisch geprägten Geschlechterethik. Dies ist unbestritten. Das Problem ergibt sich immer dann, wenn man versucht, diese Unterschiede zu benennen. Sehr schnell ist man dann bei der Rede von „Kulturkreis“ oder „kultureller Mentalität“ und schreibt damit fest, was ständig im Fluss ist. Dies ist zum einen deswegen problematisch, weil man damit immer auch den anderen festlegt. Die narzisstische Kränkung, die in der Zuschreibung einer solchen kollektiven Identität liegt, wird uns selbst immer deutlich, wenn wir am eigenen Leib davon betroffen sind – wenn wir etwa im Ausland mit Zuschreibungen über „die Deutschen“ oder „die Christen“ konfrontiert werden, was ja bemerkenswerterweise meist von Leuten geschieht, die Deutschland nicht aus erster Hand kennen. Dies ist so kränkend, weil man in eine Schublade gesteckt und als Individuum nicht mehr ernst genommen wird. Die Bemühungen, sich differenziert mit dem eigenen „Deutsch-Sein“ auseinander zu setzen, werden nicht mehr gesehen. Auch wird man „mit anderen in den gleichen Topf geworfen“, anderen, von denen man sich oft genug absetzen möchte. Die eigene Besonderheit wird geleugnet und man ist nur Gattungswesen.

Nicht weniger wichtig ist, dass mit der Rede von Mentalität Identität auf eine einzige Dimension, nämlich auf die ethnische Identität, reduziert wird. Was dies bedeutet wird deutlich, wenn wir die verschiedenen Einflüsse betrachten, die uns prägen:

  • Da ist zunächst die Sozialisation im Elternhaus, aber auch in der Schule. Dieses hat mit Sicherheit großen Einfluss. Allerdings ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass Normen und Werte von den Eltern bruchlos an die Kinder weitergegeben werden. Genauso oft findet sich eine Rebellion gegen die Werte der Eltern und der bewusste Wille, es anders zu machen als die Eltern.
  • Einen wichtigen Einfluss hat das berufliche Umfeld. Es entspricht unserer Erfahrung, dass Juristen anders denken als Pfarrer, Manager anders als Beamte, Handwerker anders als Sozialarbeiter. In jedem dieser Berufsfelder finden Sozialisationsprozesse statt, wird ein bestimmtes Wissen weitergegeben und ein charakteristischer Habitus (eine bestimmte Art und Weise zu denken, zu fühlen und zu handeln) aufgebaut.
  • Von maßgeblicher Bedeutung sind Moden. Dabei ist nicht nur an die Kleidermode zu denken – sondern vor allem an die Abfolge von geistigen Strömungen, die das Lebensgefühl von Angehörigen einer Generation prägen. Diese Moden prägen nachdrücklich die Normen, Werte und Grundhaltungen von Generationen. Man denke nur an den Unterschied zwischen der 68er-Generation, der Hausbesetzer-Generation oder der „Generation Golf“. Dabei umfasst das Phänomen der Model natürlich auch die Antimode wie Punks und Skins.
  • Wichtig ist weiterhin der Einfluss von Klasse auf die Art und Weise sich zu geben und zu stilisieren. Dies ist besonders bestimmend, weil soziale Klassen um sich voneinander abzusetzen, kulturelle Stile und Gepflogenheiten entwickeln. Gerade Oberschichten legen Wert auf „feine Unterschiede“ (Bourdieu), mit denen sie ihre Exklusivität wahren. Da andere Gruppen sie darin imitieren, sehen sie sich genötigt, ständ neue Statussymbole zu prägen.
  • Und schließlich gibt es Milieus. In den Vorstädten herrscht eine andere Atmosphäre als in den Innenstädten, an den Universitäten eine andere als in den Fabriken. Jedes Milieu ist durch bestimmte Umgangsformen und Vorstellungen über Richtug und Falsch charakterisiert.

Die Liste ist keinesfalls vollständig. Wenn man sich befragt, durch welche Einflüsse man der geworden ist, der man ist, sieht man gleich, dass dies in der Kombination der Faktoren liegt. Es ist praktisch unmöglich, einen dieser Bereiche als wichtiger als die anderen hervorzuheben. Dies hat allenfalls in traditionalen dörflichen Gesellschaften, wo die Bereiche sich gegenseitig durchdringen, eine gewisse Berechtigung. In der modernen komplexen Gesellschaft haben sich die Bereiche ausdifferenziert und stehen in Spannung, wenn nicht sogar im Gegensatz zueinander. Es wird einige geben, die den Einfluss der Eltern als besonders prägend erachten; andere werden dagegen den Einfluss der Generation für maßgeblicher halten. Dabei ist das Wort „Prägung“ selbst missverständlich: Was in diesen Bereichen stattfindet, lässt sich nur unzureichend mit der Metapher (die ja aus dem Münzwesen stammt) fassen: Es handelt sich eben nicht um einen mechanischen Akt, bei dem etwas eingeschrieben wird, sondern um einen lebendigen Akt, in dem man zum einen sich anpasst und Normen / Werte / Haltungen / Deutungsmuster übernimmt; zum anderen aber auch sich absetzt, sich als unterschiedlich und besonders markiert.

Ich bin so ausführlich auf diesen Komplex eingegangen, weil sich daraus eine Frage von selbst ergibt: Prägung durch ethnische Kultur bezieht sich nur auf eines dieser Felder, nämlich auf den Bereich der familialen Sozialisation – und unter Umständen auf den Bereich des Milieus. Selbst wenn man der kindlichen Sozialisation zu Recht eine besondere Rolle bei der Wertevermittlung zumisst, wird man konzedieren müssen, dass im weiteren Verlauf des Lebens die anderen Einflüsse an Bedeutung gewinnen und sich deshalb eine ethnische Kultur unendlich ausdifferenziert – so sehr, dass man von klaren Grenzen zwischen den Kulturen nicht mehr sprechen kann. Ein türkischer Beamter und ein deutscher Beamter haben mehr miteinander gemeinsam als jeder von ihnen mit einem Bauern aus der jeweiligen eigenen Kultur. Hinzu kommt, dass auch die in der Sozialisation vermittelten Werte sich ständig verändern. (...)
 

Arbeitsauftrag

1. Erkläre, warum Werner Schiffauer Kultur nicht nur als „Ding“ ansieht das man hat oder nicht hat, das gerettet, bewahrt oder zerstört werden, das mitgebracht oder weitergegeben werden kann.

2. Fasse zusammen, welche verschiedenen Bedeutungen von Kultur der Autor im alltäglichen Sprachgebrauch erkennt.

3. Nenne die verschiedenen Einflüsse, die Werner Schiffauer zufolge unsere Identität bestimmen. Fallen Euch noch andere ein?

Quelle

Schiffauer, Werner. Migration und kulturelle Differenz: Studie für das Büro der Ausländerbeauftragten des Senats von Berlin, Berlin: Die Ausländerbeauftragte des Senats, 9-12, https://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/scholars/senior_schiffauer/publikationen/publikonline/Migration_und_kulturelle_Differenz.pdf.