Milwaukee, Wisconsin Territory, den 23sten April 1842
Herzlich vielgeliebte Mutter, Bruder und Schwester! Gnade von Gott, dem Vater, und von Jesu Christo, dem treuen und wahrhaftigen Zeugen, der da ist und der da war und der da kommen wird zu geben einem jeglichen, wie seine Werke sein werden, (…) Am Leibe wolle Euch der gnadenreiche Gott auch reichlich segnen mit Gesundheit und langem Leben, mit Ehre und Gut, daß Hülle und Fülle in Eurem Hause sei. Da ich nun schon beinahe drei Jahre aus Eurer Mitte bin und seit der Zeit nichts von Euch erfahren habe und Ihr auch wohl nicht viel von mir, so kann ich es jetzt nicht länger unterlassen, Euch zu benachrichtigen, wie es mir seit der Zeit ergangen ist und noch geht, sowohl im Leiblichen und auch im Geistlichen. (…) Sehr oft habe ich mich getröstet mit der Hoffnung, daß Ihr wohl erfahren hättet durch den Tonneburschen ihre Briefe, daß ich hier in Amerika und noch am Leben sei. Ihr wißt, daß ich den 16. Mai 1839 mit vielen Tränen und unter schmerzlichem Gefühl der Wehmut aus Eurer Mitte Abschied nahm und die Auswanderung nach Amerika antrat. Nun, nachdem wir, von zu Hause aus, binnen 14 Tagen Hamburg glücklich erreicht hatten, warteten wir daselbst einen vollen Monat auf unsere zurückgebliebenen Landsleute und Glaubensgenossen, welche in Stettin, wie Ihr wohl wissen werdet, wegen der Pässe verweilen mußten. Den letzten Tag, wo wir in Hamburg waren, habe ich einen Brief an Euch geschrieben, welches in sehr großer Eile geschehen; ich weiß aber nicht, ob Ihr ihn bekommen habt. Am 31sten Juni zogen wir, nämlich die Schwester Gemeinde, auf einem Dampfschiff von Hamburg aus nach England, und landeten nach 3 1/2 Tagen in New Castle. Am dritten Tag nach unserer Ankunft daselbst fuhren wir von dort auf einer Eisenbahn nach Carlisle, und von dort wieder auf einem Dampfschiff nach Liverpool. Am 11ten Juli schritten wir von hier aus auf einem dreimastigen großen Segelschiff in See und erreichten nach vielen ausgestandenen Beschwerlichkeiten unter Gottes gnädigen Beistand den 6. September New York in Amerika. Die letzten 14 Tage auf unserer Seereise und die ersten zwei Wochen nach unserer Ankunft in New York war ich sehr krank, doch hat mir der gnädige Gott, Dank sei seiner Barmherzigkeit! väterlich durch- und aufgeholfen. Nachdem wir von New York aus auf einem Dampfschiffe bis Albany und von dort aus, teils auf Eisenbahn, teils auf Kanal-Böten, welche von Pferden gezogen wurden, endlich in Buffalo angelangten, so war die Kasse ziemlich erschöpft, und für so viele Menschen als unser hier mit einem Male angekommen waren, nicht Arbeit genug vorhanden. Wir mußten uns daher trennen. Die Wohlhabenden unter uns zogen auf einem Dampfschiffe noch 1100 engl. Meilen weiter nach Milwaukee und Umgegend, im Territory Wisconsin, und die Armen waren genötigt in und um Buffalo herum Arbeit zu suchen; viele von uns gingen 15 d.M. von Buffalo ab auf Kanal-Arbeit. Hier ging es uns, wie es vielen Einwanderern, die der englischen Sprache nicht mächtig sind, anfänglich zu gehen pflegt, nicht vom Besten. Am Kanal verdienten wir uns in kurzer Zeit bald soviel, daß wir von einem Platz zum andern reisen konnten, wovon ich auch ein großer Liebhaber war und jetzt noch bin. Als ich ein Jahr im New York Staat gearbeitet hatte, reiste Herman Roggenbuck und ich nach dem Staate Pennsylvanien, weil der Lohn dort höher war wie im New York Staat. Nachdem wir dort 9 Monate gearbeitet hatten, zog H. Roggenbuck zurück zu seinen Eltern und den Seinigen nach Buffalo, die dann ins gesamt aufbrachen und den Bekannten und Glaubensgenossen nach Milwaukee nacheilten. Da ich aber nicht meinen verdienten Lohn mit meinem Kamerad zugleich bekommen konnte, so sah ich mich genötigt, noch 4 Monate dort zu bleiben, wo ich dann meinen Lohn bekam und so auch am 29sten September 1841 aufbrach und teils auf der Eisenbahn, teils auf Kanal-Böten nach Buffalo und von dort nach einem 3tägigen Aufenthalt daselbst auf einem Dampfschiffe (über den See Erie, Huron und Michigan) Milwaukee, welches am letzteren See liegt, erreichte. Diese weite Reise von 1300 engl. Meilen (oder ungefähr 325 deutsche Meilen), welche mir 20 hiesige Thaler kostete, legte ich in 9 Tagen glücklich zurück. Die Freude war sehr groß als ich hier mit meinen Landsleuten und Glaubensgenossen, von denen sich viele schon Land gekauft haben, und daher ein förmlich deutsches Siedelment [settlement: Siedlung] bilden, wieder zusammen kam, da ich über 3 Jahr keinen von ihnen gesehen, auch nicht viel von ihnen erfahren hatte. Diesen vergangenen Winter habe ich bei einem amerikanischen Farmer oder Bauer gedient und habe 9 Dollar das Monat gehabt; bin jetzt aber abgegangen und habe mich bis jetzt noch nicht wieder nach Arbeit umgesehen. Auch will ich hier kurz bemerken, daß man sich keineswegs von einer hiesigen guten Bauern-Familie solche Begriffe zu machen habe wie etwa bei Euch in Preußen, sondern sie führen hier eine weit anständigere und freiere Lebensart. Man sieht kein amerikanisches Frauenzimmer draußen arbeiten, und gehen sehr fein gekleidet. Sie gehen selten zu Fuß, es sei zur Kirche oder in andere Gesellschaften, sondern reiten oder fahren dahin. Und wenn bei Euch ein Bauer sollte solche Kost führen, wie sie hier bei den Bauern geführt wird, so würde man urteilen und schließen, daß er in kurzer Zeit bankrott werden müßte. Amerika ist ein gutes Land, es blüht unter dem Segen Gottes, aber doch trägt es auch Dornen und Disteln. Für einen Mann, der da arbeitet, ist es hier viel besser wie dort; man kann das leibliche Stückehen Brot besser erwerben wie in Deutschland, lebt auch nicht so eingeschränkt und unter solcher Unterthanschaft wie bei Euch unter den Gutsbesitzern, braucht auch nicht den Hut zu drücken unter dem Arm oder ihn vor der Türe lassen, wenn man seinen verdienten Lohn haben will. Es herrschet eine ziemlich' Gleichheit unter den Menschen hier in Amerika. Die Hohen und Reichen schämen sich nicht umzugehen mit den Armen und Niedrigen. Dient einer dem anderen, so ist er nicht gebunden an irgend eine Zeit, sondern er geht ab wenn er will; ein jeder ist sein eigener Herr. Man kann auch frei und ungehindert reisen durch ganz Amerika ohne etwa einen Paß oder dergleichen. Es wird hier überhaupt viel gereist; wenn ein Vater ein Haus voller Kinder hat und sie sind erwachsen, so sind die auch zerstreut fast durch ganz Amerika. (…) Von den kirchlichen Sachen kann ich nicht viel Gutes schreiben, denn der Antichrist hat seinen Stuhl auch über Amerika gesetzt. Das aber ist das beste, daß hier ein jeder Freiheit hat, nach seinem Glauben zu handeln. Wer hier falsche Lehre annimmt, der tut es nach seinem freien Willen. Wir können Gott nicht genug danken, daß er uns in ein solch Land gebracht hat in dieser Versuchungs-Stunde, die über den ganzen Erdkreis gekommen ist. (…) Weil nun in Amerika Glaubens- und Bekenntnisfreiheit unbeschränkt im weiteren Umfange des Wortes vorhanden ist, so haben christliche Gemeinden einerseits zu wachen, daß sie unter sich nicht in Quakerei [Gezänk] verfallen, anderseits aber auch, daß sie die göttlichen Rechte, die sie haben, nicht vergeben und den Priestern nicht eine dem Worte Gottes zuwiderlaufende Priesterherrschaft gestatten, wodurch sie zu Menschen-Knechten herabsinken und aus der Freiheit kommen würden, womit sie Christus befreiet hat, nach 1.Cor.7,23.