Wie ging es den Gefangenen im Halbmondlager?

Die Geschichte von Kriegen wird häufig hauptsächlich auf der Grundlage von Dokumenten geschrieben, die in administrativen Zusammenhängen entstanden sind. Erst seit einigen Jahrzehnten ist der zunehmende Trend zu erkennen, die Perspektive der Menschen, die die Geschichte selbst erlebten, in die Geschichtsschreibung mit einzubeziehen.

Im Lautarchiv der Humboldt-Universität in Berlin gibt es eine Sammlung von 1650 Schall­platten mit Tonaufnahmen von Gefangenen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Zwischen 1916 und 1918 hatte die Königlich Preußische Phonographische Kommission mit einem Grammophon die Stimmen von Kriegs- und Zivilgefangenen in deutschen Lagern aufgenom­men.

Zu den Aufnahmen gehörten einzelne Worte, die Umgangssprache, Erzählungen, Lieder, Musik (die die gesungenen Lieder begleitete, Chöre und Orchester), Dialoge und gesprochene Vorträge.

Die Kommission beabsichtigte mit den Aufnahmen die ca. 250 Sprachen, in denen die Gefangenen miteinander sprachen, und ihre Musik systematisch aufzunehmen, zu bearbeiten und der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen.
 

Auf einer dieser Schallplatten findet sich auch das folgende Gedicht von Sadak Berrěʃid. Er hat es wahrscheinlich selbst geschrieben und am 30. Mai 1916 auf Arabisch in das Aufnahmegerät gesprochen.

Mein Blut floss in Strömen

Eine sonderbare Kunde kam zu uns im Ramadan
Und mit ihrem Gerede machten sie uns wirr.
Sie zogen Papiere und Schreibrohre hervor
Und riefen uns mit Namen auf.
Sie schleppten uns bis zu den Deutschen
Und ließen uns durch deren Blei verwundet werden.
Wenn Gott uns Kraft geben wollte,
fragten wir nicht nach der Regierung.

Ich wurde zwischen zwei Bergen verwundet
Und begann zu weinen und zu klagen.
Mein Blut floß in Strömen,
Mein ganzer Körper war besudelt.
Ich freute mich, daß mich die Deutschen fortholten,
Und dachte, ich käme nun nach Hause.
Sie schlossen mich aber mit Schlössern ein,
Nun sitze ich verlassen hier.

In Belgien haben sie mich gequält,
Und die Ärzte haben mir bös zugesetzt.
Sie wollten mir den Fuß amputieren,
Sogar der Arzt gab mich auf.
Mein Blut floß in Strömen,
O mein Gott, hilf mir!

 

Laut Personalbogen wurde Sadak Berrěʃid 1879 in der tunesischen Stadt Monastir geboren. Seit 1907 war er Soldat und gehörte wahrscheinlich zu den Truppen, die Frankreich in seinen nordafrikanischen Kolonien rekrutierte und im Ersten Weltkrieg bei den Schlachten in Belgien und Nordfrankreich einsetzte.

Arbeitsauftrag

1. Fasst den Inhalt des nachfolgenden Gedichts in wenigen Sätzen zusammen. Be­schreibt, was man über das Schicksal von Sadak Berrěʃid, über seine Gefühle, seine Hoffnungen und Ängste erfährt.

2. Untersucht den Personalbogen nach weiteren Informationen über Sadak Berrěʃid.

3. Überlegt, ob Sadak Berrěʃid dem Aufruf zum Dschihad gefolgt sein könnte. Welche Gründe sprechen dafür, welche dagegen?

4. Sucht im Video „Allahs vergessene Krieger“ nach Hinweisen über die Arbeit der Wissen­schaftler im Lager: Was waren die Ziele, wofür interessierten sie sich, wofür nicht? Versucht, die Haltung der Wissenschaftler zu beschreiben.

Quelle

Lange, Britta. Gefangene Stimmen: Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Lautarchiv 1915-1918, Berlin: Kadmos, 2019.

Lange, Britta. Gefangene Stimmen: Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Lautarchiv 1915-1918, Berlin: Kadmos, 2019, 237.

Lange, Britta. Gefangene Stimmen: Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Lautarchiv 1915-1918, Berlin: Kadmos, 2019, 243.