Zum Geschichtsbewusstsein von Migrantisierten

In der Wochenzeitung „der Freitag” stellte Redakteur Jakob Augstein bezugnehmend auf die Aussage des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“ aus dem Jahr 2015 die These auf, dass die Erinnerung an den Holocaust u. a. deswegen „in die Ferne rückt”, da in Deutschland immer mehr Menschen mit Migrationsbezug leben, „deren Vorfahren weder Täter noch (und seltener) Opfer waren”. Er bat die Politik- und Sozialwissen­schaftlerin Naika Foroutan, in einem Debattenbeitrag hierzu Stellung zu beziehen. Naika Foroutan lehnte ab, der Mailwechsel zwischen ihr und Augstein wurde jedoch anschließend im „Freitag” abgedruckt.
 

Einleitung

„Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz”, hat Joachim Gauck 2015 im Bundestag gesagt. Aber wird das so bleiben? Es verändert sich gerade etwas. Die Zeitzeugen sterben und immer mehr Menschen prägen das Land, deren Vorfahren weder Täter noch Opfer waren. (...) Darüber wollen wir in einer Serie diskutieren. Mit Intellektuellen, Forschern, Autoren, die einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Die Erste, die auf unser Anliegen reagierte, war die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan. Sie schrieb eine Absage. Es entspann sich daraufhin ein Mailwechsel zwischen ihr und Freitag-Verleger Jakob Augstein, den wir hier leicht gekürzt wiedergeben.

 

Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Naika Foroutan und Jakob Augstein, erschienen in: „Der Freitag”, Ausgabe 36/2017:
 

Liebe Naika Foroutan,

der Freitag würde Sie gerne für eine Debatte gewinnen. Unsere Fragestellung: Wie geht man als migrantischer Autor, als migrantische Autorin mit der deutschen Schuld um? Der Holocaust prägt die deutsche Kultur bis heute in ihren Grundfesten, ob ihr das bewusst ist oder nicht. Allerdings ist das nicht von Dauer. Nicht nur sterben die Zeitzeugen, es prägen auch immer mehr Menschen dieses Land, deren Vorfahren weder Täter noch (und seltener) Opfer waren.

Trifft das ihrer Meinung nach zu? Ist der Holocaust für Sie in die Ferne gerückt [...]? Oder gehen Sie gar noch weiter: Er ist nicht Ihre Geschichte. Er ist buchstäblich kein Thema für Sie. Oder verhält es sich gerade umgekehrt: Er geht Ihnen nahe, weil Sie sich die deutsche Kultur zu eigen gemacht haben?

Wir würden uns sehr freuen, wenn wir Sie für einen Debattenbeitrag gewinnen können.

Mit sehr herzlichen Grüßen,

Ihr Jakob Augstein


Lieber Jakob Augstein,

ob ich die Richtige bin für einen Debattenbeitrag zum Thema Migranten und Holocaust – oder ist es in Wahrheit ein Beitrag zum Thema Muslime und Holocaust? Mein Großvater war Mitglied der NSDAP, zwischenzeitlich sogar in der SS. [...] Seine Tochter Magdalene (meine Mutter) lernte mit 19 Jahren als Aupair-Mädchen einen iranischen Filmregiestudenten aus Teheran kennen und zog mit ihm weit weg aus der Enge Deutschlands in die Weite Teherans, wo sie lernte, was der Holocaust für Folgen, nicht nur für die Psyche der Deutschen, sondern auch für die Politik der Welt mit sich gebracht hatte.

[...] Mein iranischer Vater antwortete auf meine Frage „Papa, was ist Antisemitismus?”, dass Sartre gesagt habe: Antisemitismus ist eine Krankheit! Und leider seien die Befallenen seit 2.000 Jahren unheilbar. Als ich das Zitat später suchte, fand ich es bei Leo Pinsker, einem polnischen Arzt und Zionisten aus dem 19. Jahrhundert.

Meine deutschen Großeltern haben nicht über den Holocaust gesprochen und auch nicht über Antisemitismus. Als wir 1983 nach Deutschland zogen, unterrichtete uns am Gymnasium ein Geschichtslehrer, der Ehrenmitglied im SS-Traditionsverein war.

Ich finde Ihre Fragen an mich irritierend: weniger, weil Sie so selbstverständlich davon ausgehen, dass ich als Muslimin, oder als Migrantin, oder als was auch immer Sie mich anfragen, keine Deutsche und somit auch nicht verwoben mit dieser Geschichte sein kann. Vielmehr, weil Ihre Täter-Opfer-Außenseiter-Kategorisierung so wenig die Komplexität des Holocaust und seiner Geschichten reflektiert. Der Holocaust ist keine rein deutsche Geschichte, er ist eine Geschichte, die an der Menschlichkeit zweifeln lässt und daher ebenso universal wie die von Kain und Abel. Und die Schuld dieser Geschichte geht über das Verbrechen an Menschen der Zeit hinaus.

[...] Auch Ihre Annahme, der Schmerz der jüdischen Familien und das Schuldgefühl stellten sich kausal aus der biografischen Verbundenheit her, ist empirisch nicht gedeckt. Man muss nicht historische und biografische Bezugspunkte haben, um mitzuleiden – das wird Ihnen sicherlich an vielen Deutschen klar, die trotz oder wegen historischer und biografischer Bezugspunkte die Verantwortung als „Schuldkult” schmähen und eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad einfordern.

Lassen Sie mich andersherum fragen: Könnten Sie einen Debattenbeitrag darüber schreiben, ob Ihnen der Tod des kleinen Aylan Kurdi[1] weniger nah geht, weil Sie kein Syrer sind? Fühlen Sie den Tod von 8.000 Männern und Jungen zwischen 13 und 78 in Srebrenica[2] weniger, weil Sie kein Muslim sind? Oder weil das außerhalb „Ihrer” Geschichte liegt?[...] Das Vergessen des Holocaust uns Muslimen oder Migranten zuzuweisen, erscheint mir zu banal.

Ihre Naika Foroutan


Liebe Naika Foroutan,

vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort. Ihren biografischen Hintergrund, das gestehe ich, kannte ich nicht. Sie wundern sich über das Anliegen. Und sagen, der Holocaust sei ein menschliches Thema, kein deutsches. Aber ich stelle mir vor, dass es einen Unterschied macht, ob ich als deutscher Mensch darüber rede – oder als beispielsweise französischer Mensch. Diesen Unterschied in einer allgemeinen Theorie der menschlichen Verantwortung oder Empathie untergehen zu lassen, mag vielleicht wünschenswert sein. Ist das auch realistisch? Gibt es nicht doch einen anderen Verantwortungszusammenhang? Eine Unmittelbarkeit des Betroffenseins?

Ihr Jakob Augstein


Lieber Jakob Augstein,

meine Verwunderung gilt der Annahme in Ihrer Fragestellung: Sie fragen gezielt migran­tische AutorInnen in Deutschland an. Mit dem Abbinder: Der Holocaust ist nicht ihre Geschichte. Subtext: Er ist unsere. Als Deutsche empfinden wir das anders als ihr. Aber dass wir ihn vergessen, liegt irgendwie auch an euch.

Und Ihre – Verzeihung – Küchenhypothese zur Unmittelbarkeit des Betroffenseins leugnet jede Empathietheorie. Daher noch mal die Frage: Glauben Sie, Sie empfinden weniger bei den Fotos des toten kleinen Jungen am türkischen Strand, weil Sie kein Syrer sind?

Müssen Sie Afrikaner sein, um betroffen zu sein von den Rassentrennungsmechanismen im Apartheid-System Südafrikas? Oder schämen Sie sich nicht, wenn Sie das Ihren Kindern erklären wollen, wie das damals war, mit den Vorstellungen von Weißen, auch wenn Sie nie Südafrikaner waren?

Sich verbunden zu fühlen ist keine Frage der Nationalität. Sondern eine der Erziehung. Zu Anstand und Empathie. Betroffenheit kann über jegliche Unmittelbarkeit hinaus erzeugt werden: Oder empfinden Sie mit den Flüchtenden nur, wenn Sie selbst geflohen sind? Mit Vergewaltigten nur, wenn Sie eine Frau sind?

Es gibt nicht wenige Deutsche, denen der Holocaust nicht nur lästig, sondern vollkommen egal ist. Es ist Euphemismus, zu glauben, es reiche, Deutscher zu sein, um hier tiefer, mehr oder auch nur anders zu empfinden.

[...] Ich stimme Ihnen zu, dass diejenigen Deutschen, die sich stark damit auseinander­setzen, auch die nationale Schuld stärker mitspüren. Und affektiv mit Verantwortungsgefühl reagieren. Ich widerspreche entschieden, wenn Sie glauben, dafür müssten die Ahnen Deutsche sein.

Ihre Naika Foroutan
 


[1] Der zweijährige Aylan oder auch Alan Kurdi ertrank im September 2015 auf der Flucht aus Syrien im Mittelmeer. Sein Schicksal, das er mit tausenden Menschen teilt, wurde durch Film- und Fotoaufnahmen des toten Jungen in der Presse bekannt..

[2] Hier spricht Naika Foutan das Massaker von Srebrenica an, das während des Bosnienkrieges mehr als 8.000 Menschen angetan wurde.

Arbeitsauftrag

Lest euch den Mailwechsel durch und beantwortet folgende Fragen:

  1. Welche Argumente sprechen eurer Meinung nach für und gegen die These Augsteins?
  2. Wer hat Augstein und Foroutan zufolge eine Verantwortung, sich an den Holocaust zu erinnern?
  3. Welche Konsequenz haben die unterschiedlichen Ansichten, wenn man das Zitat des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz”, ernst nimmt?

Quelle

Naika Foroutan und Jakob Augstein. „Stolpersteine: Debatte Rückt der Holocaust durch den Zuzug von Migranten und das Verschwinden der Zeitzeugen in die Ferne? Oder doch eher durch eine falsche Erinnerungspolitik? Ein Briefwechsel“, in: der Freitag 36 (2017), https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/stolpersteine, zuletzt geprüft am 7. Januar 2021.