Textquelle: Zeitungsartikel

Der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert äußert sich in einem Zeitungsartikel für „Die Zeit“, am 09. Juli 2015 (Kontext: 2015 wurde im Parlament eine Anerkennung des Vorgehens des Osmanischen Reichs gegen die Armenier als Völkermord diskutiert. Die Ereignisse wurden offiziell als Völkermord anerkannt.):

„Deutsche ohne Gnade

Wer in der Bundesrepublik vom Armenier-Genozid spricht, darf vom deutschen Völkermord an den Herero und Nama nicht schweigen. Vor genau 100 Jahren endete die Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika – ein bedeutendes, aber weithin vergessenes Kapitel der deutschen Geschichte. […]

Die Erinnerung daran spielt im heutigen Namibia eine ungleich größere Rolle als in Deutsch­land. Zugleich aber steht das mangelnde Gedenken an die eigene koloniale Vergangenheit hierzulande in einem auffälligen Gegensatz zu der im April leidenschaftlich geführten Debatte anlässlich des 100. Jahrestages des Völkermords an den Armeniern im Osmani­schen Reich. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil das Kaiserreich für die Massaker und Deportationen in Ostanatolien zwar mitverantwortlich war, indem es seine Einflussmöglich­keiten zur Rettung von Menschenleben nicht nutzte, die deutsche Schuld an den Grausam­keiten in den Kolonien demgegenüber aber ganz unmittelbar ist.

Deutschland war im Kreise der europäischen Mächte gewiss nicht die führende Kolonial­macht. Mit seiner kurzen kolonialen Vergangenheit verbinden sich gleichwohl beschämende Verbrechen – vor allem die gnadenlose Niederschlagung des Aufstands der Herero und Nama zwischen 1904 und 1908. […] Die ‚Schutztruppe‘ in Deutsch-Südwest war eine Besatzungsmacht in einem unterworfenen Land. […]

Der wirtschaftliche Ertrag der Kolonien war eher dürftig. Doch die einheimische Bevölkerung litt schwer unter den Demütigungen durch die rassistische Feudalgewalt der Kolonialherren. Im Südwesten Afrikas eskalierten 1904, nach Jahren des Widerstands gegen die Fremd­herrschaft, Konflikte mit den deutschen Siedlern zu einem erbarmungslosen Krieg, den die Deutschen als einen ‚Rassekrieg‘ führten. ‚Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen‘, lautete der berüchtigte ‚Schießbefehl‘ des deutschen Oberbefehlshabers, Generalleutnant Lothar von Trotha. ‚Kein Pardon‘ war damals die allgemeine Parole.

Nicht nur den Kampfhandlungen, sondern auch Krankheiten und dem gezielten Morden durch Verdursten und Verhungern lassen fielen Zehntausende Herero und Nama zum Opfer, andere starben in Konzentrationslagern oder bei der Zwangsarbeit. Am Ende stand für die Überlebenden die totale Enteignung. Sie verloren ihr Land und ihre Herden und damit ihre Lebensgrundlage. An den heutigen Maßstäben des Völkerrechts gemessen — demnach ist der Straftatbestand des Völkermords erfüllt, wenn die Absicht besteht, ‚eine nationale, ethni­sche, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören‘ — , war die Niederschlagung des Herero-Aufstandes ein Völkermord. So wird es von zahlreichen, auch deutschen Historikern bewertet.

Unabhängig von der Frage, ob die UN-Völkermordkonvention auf diesen Fall anwendbar ist, haben Bundestag und Bundesregierung mehrfach die historische und moralische Verant­wortung Deutschlands betont. In einer Entschließung, die zugleich tiefes Bedauern und Trauer zum Ausdruck brachte, forderte das Parlament bereits 2004, dass sich Deutschland seiner kolonialen Vergangenheit in aller Klarheit und Deutlichkeit stellt. Im selben Jahr entschuldigte sich die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, in Namibia für die von Deutschen begangenen Verbrechen. Die Erwartungen an Deutschland, sich mit dieser Gewaltgeschichte ausein­anderzusetzen, sind unter den Nachkommen der Opfer weiterhin hoch.

In der Bundestagsdebatte über die Massaker an den Armeniern habe ich gesagt, dass die heutige türkische Regierung nicht verantwortlich für das ist, was vor 100 Jahren geschehen ist. Das gilt auch für Deutschland. Aber wie die Türken tragen auch wir Verantwortung dafür, wie wir mit dieser Geschichte umgehen. […] Die klare Benennung dessen, was geschehen ist, kann nur der Anstoß zu einem Versöhnungsprozess sein, der allein im Austausch und Dialog möglich ist. […]“

Quelle

Lammert, Norbert. „Deutsche ohne Gnade“, in: Zeit Online 28 (2015), https://www.zeit.de/2015/28/voelkermord-armenier-herero-nama-norbert-lammert , zuletzt geprüft am 14. Mai 2021.