Antiziganismus

Rassistischen Klischees zu Sinti*zze und Rom*nja begegnen

Von: Dr. Markus End

Sachinformation

Worum geht es?

Die Ideologie des Antiziganismus basiert auf der Stigmatisierung von Roma, Romnija, Sintos und Sintessas[1] und auf der Annahme, diese seien eine homogene Gruppe mit unveränderlichen Merkmalen, die sie zu einer vollkommen „fremden“ “Ethnie“ oder „Kultur“ formen würden. Hinzu kommt eine verallgemeinernde Zuschreibung stereotyper, von der Norm abweichender Eigenschaften an diese Gruppe. Im Endeffekt entstehen verallgemeinernde und biologisierende Aussagen wie „Z*** haben das im Blut“ oder „Rom*nja neigen zum Diebstahl“. Diese Aussagen bleiben nicht individuelle Überzeugungen, sondern manifestieren sich in Filmen, in der Musik, in der Literatur, in Spielzeug, in Presse und Medien, in politischen Debatten und am Stammtisch. Dabei sind sie im Kern häufig schon Jahrhunderte alt und werden gesellschaftlich immer weiter tradiert und auf aktuelle Situationen angepasst.

Vor dem Hintergrund dieser Ideologie entstehen antiziganistische Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung, vorwiegend von Roma, Romnija, Sintos und Sintessas. Diese Ausgrenzung und Verfolgung währten in unterschiedlichen Ausprägungen seit Jahrhunderten fort. Sie erreichten ihren negativen Höhepunkt in ihrer rassistisch motivierten und systematischen Massenvernichtung in ganz Europa durch die nationalsozialistischen Deutschen und ihre Helfer*innen.

Antiziganismus ist in den europäischen Gesellschaften weit verbreitet. Nach wie vor bestehen durch Stereotype geprägte Wahrnehmungsmuster fort. Diskriminierung ist für viele von Antiziganismus Betroffene Alltag. In verschiedenen europäischen Ländern, auch in Deutschland, kommt es immer wieder zu gewalttätigen teils pogromartigen Übergriffen, zu Brandstiftungen und in Einzelfällen zu antiziganistisch motivierten Morden. Der ‚Fall Maria‘ steht exemplarisch für diese fortbestehenden Wahrnehmungsmuster. Die stereotype Unterstellung, dass sie würden Kinder stehlen, ist Jahrhunderte alt und hat dennoch bis in die Gegenwart nichts von ihrer Gefährlichkeit verloren. Den Medien in Griechenland, in anderen europäischen Ländern, sogar in den USA erschien die These, das Mädchen Maria sei gestohlen worden, unmittelbar plausibel. Die Vermutung, Tausende anderer blonder Kinder seien entführt worden, wurde in seriösen Presseorganen kolportiert. Durch die Fallbeispiele wird den Jugendlichen vor Augen geführt, inwiefern dieses Vorurteil noch heute den Hintergrund beispielsweise für rassistische Stimmungsmache im Internet sowie für pogromähnliche Übergriffe in Italien abgibt.

Gleichzeitig verdeutlicht der „Fall Maria“, wie weitgehend die öffentliche Wahrnehmung von „Rom*nja“ noch heute von Vorstellungen biologischer Homogenität verschiedener Gruppen geprägt ist: Die Existenz blonder Rom*nja wurde in den Medien und in der Öffentlichkeit einfach nicht für möglich gehalten. Insofern bietet dieser Fall ein gutes Beispiel, um hiervon ausgehend biologistische und rassistische Vorstellungen im Allgemeinen zu thematisieren und zu hinterfragen.

Das Unterrichtskonzept zielt also darauf ab, sowohl die vereinheitlichende Wahrnehmung einer unveränderlichen Gruppenzugehörigkeit infrage zu stellen, als auch die verallge­meinernde Zuschreibung sozial unerwünschter Eigenschaften zu thematisieren.

Durch den Bezug auf die Arbeit des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma soll den Jugendlichen die Möglichkeit bürgerrechtlichen und gesellschaftspolitischen Engagements eröffnet werden. Bei der Durchführung sollte darauf geachtet werden, den rassistischen Begriff des Z-Wortes nach einer einmaligen Erklärung möglichst nicht mehr zu verwenden, da dieser Begriff diskriminierend ist und als Trigger für Verletzungen bei Betroffenen wirken kann.

 

Welche Materialien werden verwendet?

Das Unterrichtsmaterial basiert auf der Auseinandersetzung mit realen Ereignissen sowie der medialen Berichterstattung über diese Ereignisse. Die Jugendlichen werden sich folglich kritisch mit Textbeiträgen sowie einem Videobeitrag auseinandersetzen, in denen verschiedene Geschehnisse erläutert werden. Für eine kurze Einführung wird außerdem ein Kurzfilm der Bundeszentrale für politische Bildung verwendet. Insgesamt ist es hilfreich, wenn für die Jugendlichen während der Arbeit ein Internetzugang besteht.

Nach einem Einstieg mit einem kurzen Videobeitrag über eine Pressekonferenz des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma (Material 1), durch den bereits zentrale Fakten und Ereignisse beschrieben werden, werden die Jugendlichen in zwei Arbeitsgruppen aufgeteilt. In diesen AGs erarbeiten sie sich zunächst je unterschiedliche vertiefte Sachkenntnisse zu dem Vorfall. Die erste Gruppe fokussiert auf die realen Geschehnisse (Material 3), die zweite Gruppe beschäftigt sich mit der Kritik an der medialen Darstellung (Material 4). Beide Gruppen werden ermutigt, die Textlektüre durch eine kurze Internetrecherche zu ergänzen. Anschließend werden die Arbeitsergebnisse den Mitgliedern der je anderen Gruppe vorgestellt.

Mit einem weiteren Erklärvideo (Material 5) setzen sich die S*S verstärkt mit dem Themenfeld Antiziganismus auseinander. Das Video vermittelt zentrale Kenntnisse zum Themenfeld und verweist insbesondere auf die tiefgreifenden Vorurteile und Ausgrenzungspraxen gegenüber Sinti*zze und Rom*nja, die auch heute noch fortbestehen. Nach einer kurzen Möglichkeit zur Klärung von Rückfragen folgt eine zweite Arbeitsgruppen-Phase. Darin setzen sich die Jugendlichen dann mit drei verschiedenen historischen und gesellschaftlichen Situationen auseinander, in denen das antiziganistische Vorurteil der Kindesentführung eine Rolle spielt. Dabei werden so unterschiedliche Materialien wie eine Falschmeldung zu vermeintlichem Organhandel durch als Z*** Stigmatisierte oder „Rumän*innen und Bulgar*innen“ in sozialen Netzwerken (Material 7), ein Auszug aus dem Roman „Der Glöckner von Notre Dame“ von Victor Hugo (Material 8) sowie Medienberichte zu einem Pogrom gegen Rom*nja in Italien, welcher durch die Behauptung eines versuchten Kindesraubes ausgelöst wurde (Material 9). Im Anschluss stellen sich die Arbeitsgruppen erneut vor, was sie herausgefunden haben und beschließen damit die zweite Unterrichtseinheit und den ersten Teil des Moduls, in dem das Vorurteil der Kindesentführung ausführlich thematisiert wurde.

Zu Beginn des zweiten Teils der Unterrichtseinheit (Stunde 3) führen die Jugendlichen ein Rollenspiel durch, bei dem sie die Möglichkeit haben müssen, sich im Raum zu verteilen. Das Rollenspiel ist dazu geeignet, die Bedeutung und die Vorgänge in Gruppenbildungs-prozessen zu reflektieren und insbesondere rassistische oder anderweitig ethnisierende Vorgänge darin zu hinterfragen. Nach dem Rollenspiel selbst erfolgt eine ausführliche Auswertung des Geschehenen. Detaillierte Erläuterungen zur Durchführung des Rollenspiels können Material 15 entnommen werden. Für das Rollenspiel ist die Anschaffung von Klebepunkten o.Ä. zur äußerlichen Kennzeichnung der S*S in mehreren Farben erforderlich.

Mit einem Transfer (Rückbezug auf die Materialien 1-4) eröffnet die Lehrkraft in der vierten Unterrichtseinheit den Rückbezug zum „Fall Maria“, in dem essentialistische Vorstellungen von „dunkelhaarigen“ und „dunkeläugigen“ „Rom*nja“ und von „blonden blauäugigen“ „Nord-Europäer*innen“ ebenfalls eine große Rolle gespielt haben. In einem Input erläutert die Lehrkraft, inwiefern die Vorstellung von dunkelhaarigen „Rom*nja“ und von blonden „Nicht-Rom*nja“ immer noch die visuelle Darstellung in den Medien, aber auch in anderen Kulturbereichen prägt (Material 11).

Zum Abschluss der Unterrichtseinheit erläutert die Lehrkraft zusammenfassend wie in einem Drei-Schritt (Material 12) rassistische Ideologien wie Antiziganismus entstehen. Für diese Erläuterung wird die vorherige Lektüre eines Hintergrundtextes (Material 14) empfohlen. Das Schaubild wird sukzessive an der Tafel entwickelt. Dabei ist es sinnvoll, sowohl auf die Ergebnisse der zweiten Arbeitsgruppenphase, als auch auf die Ergebnisse der Diskussion nach dem Rollenspiel einzugehen und diese als Beispiele für die Elemente des Schaubilds einzubeziehen.

 

Materialien

Material 1:       Video – „Roma gegen ‚Maria‘-Berichterstattung“

Material 2:       Transkript zu „Roma gegen ‚Maria‘-Berichterstattung“

Material 3:       Arbeitsblatt – Der „Fall Maria“ in den Medien (Gruppe 1)

Material 4:       Arbeitsblatt – Kritik an der Berichterstattung: Pressemeldung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma (Gruppe 2)

Material 5:       Video – „Was ist Antiziganismus?“

Material 6:       Transkript zum Video – „Was ist Antiziganismus?“

Material 7:       Arbeitsblatt – Falschmeldungen auf Facebook (Gruppe 1)

Material 8:       Arbeitsblatt – „Der Glöckner von Notre Dame“ (Gruppe 2)

Material 9:       Arbeitsblatt – „Die Angriffe in Italien“ (Gruppe 3)

Material 10:     Informationsmaterial – Hinweise zum Rollenspiel „Punkt auf der Stirn“

Material 11:     Foto – Wie sehen denn „Sinti*zze und Rom*nja Kinder“ aus?

Material 12:     Schaubild – Die Entstehung von antiziganistischen Vorurteilen

Material 13:     Hintergrundinformation – Ablauf der Geschehnisse „Fall Maria“

Material 14:     Hintergrundinformation – Die Wirkungsweise der antiziganistischen Vorurteilsstruktur“

 

Weiterführende Literatur

Alte Feuerwache e.V. Jugendbildungsstätte Kaubstraße (Hg.). Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. (2. Aufl.), Münster: Unrast Verlag, 2014.

Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.). Aus Politik und Zeitgeschichte: Sinti und Roma, 22-23 (2011), http://www.bpb.de/files/WWG9D8.pdf.

Benz, Wolfgang. Sinti und Roma: die unerwünschte Minderheit: Über das Vorurteil Antiziganismus, Berlin: Metropol, 2014.

Bundeszentrale für politische Bildung. „Online-Dossier: Sinti und Roma in Europa“, http://www.bpb.de/internationales/europa/sinti-und-roma-in-europa/, zuletzt geprüft am 02.11.2021.

Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma (Hg.). Antiziganismus: Soziale und historische Dimensionen von "Zigeuner"-Stereotypen, Heidelberg: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, 2015.

End, Markus. Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit: Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation, Heidelberg: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, 2014. Zuletzt geprüft am 02.11.2021, https://dokuzentrum.sintiundroma.de/wp-content/uploads/2019/12/140000_Langfassung_Studie_Antiziganismus.pdf.

Engbring-Roman, Udo. „Ein unbekanntes Volk? Daten, Fakten und Zahlen: Zur Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma in Europa, http://www.bpb.de/internationales/europa/sinti-und-roma-in-europa/179536/ein-unbekanntes-volk-daten-fakten-und-zahlen?p=all, zuletzt geprüft am 02.11.2021.

Mengersen, Oliver von(Hg.): Sinti und Roma: Eine deutsche Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1573. Bonn, München: Bundeszentrale für politische Bildung, 2015.


[1] „Sinti und Roma leben seit Jahrhunderten in Europa. In ihren jeweiligen Heimatländern bilden sie historisch gewachsene Minderheiten, die sich selbst Sinti oder Roma nennen, wobei Sinti die in West- und Mitteleuropa beheimateten Angehörigen der Minderheit, Roma diejenigen ost- und südosteuropäischer Herkunft bezeichnet. Außerhalb des deutschen Sprachraums wird Roma als Name für die gesamte Minderheit verwendet. […] In Deutschland sind Sinti und Roma seit 600 Jahren beheimatet. Die etwa 70.000 hier lebenden deutschen Sinti und Roma sind eine nationale Minderheit und Bürger*innen dieses Staates.“ (http://www.sintiundroma.de/sinti-roma.html).

Weitere Informationen finden Sie hier: http://www.bpb.de/internationales/europa/sinti-und-roma-in-europa/179536/ein-unbekanntes-volk-daten-fakten-und-zahlen?p=all

 

Sie können auch die gesamte Materialsammlung zusammen mit dem kompletten Text dieser Unterrichtseinheit herunterladen.