Deutsch-polnische Migrationsgeschichten
Wie Athanasius Raczyński nach Berlin und Bamberger*innen nach Poznań kamen

Thema
Migration ist ein uraltes Phänomen. Trotzdem wird darüber in verschiedenen Kontexten als über eine Ausnahmesituation und in einem negativen Setting gesprochen. Migrant*innen werden oft stereotyp dargestellt – als arme Menschen, die sich auf der Suche nach Beschäftigung und Brot in ein fremdes, reiches Land begeben. Die in dieser Unterrichtseinheit behandelten Beispiele irritieren das stereotype Denken über Migrant*innen und Migration, zeigen andere Beweggründe und andere Migrationsarten, die im öffentlichen Diskurs meist kaum Beachtung finden.
Die Unterrichtseinheit thematisiert zwei deutsch-polnische Migrationsgeschichten aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Zum einen geht es um die Anwerbung und Ansiedlung von Familien aus dem ländlichen Raum Bambergs in der Umgebung von Poznań, die maßgeblich zum Wiederaufbau der durch den Großen Nordischen Krieg zerstörten und von der Pest entvölkerten Dörfer beitrugen und damit entscheidend die Entwicklung der Region förderten. Zum anderen steht die Biografie des Grafen Athanasius Raczyński im Mittelpunkt, der von Poznań nach Berlin zog, wo er an der Stelle des heutigen Reichstagsgebäudes eine öffentlich zugängliche Kunstgalerie gründete und zugleich eine diplomatische Laufbahn einschlug. Die Auseinandersetzung mit beiden Geschichten regen dazu an, die vorhandenen Stereotype über Migrant*innen und Migration zu hinterfragen und die Rolle der historischen Ereignisse dabei zu reflektieren.
Lehrplanbezug
HSU in Polnisch; Geschichte (Politische und gesellschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Polen im 18. und 19. Jahrhundert).
Erwartete Kompetenzen
Das Unterrichtskonzept fördert die (historische) Deutungs-, Analyse- und Methodenkompetenzen sowie Medien- und Sozialkompetenzen der Schüler*innen (S*S). Sie bekommen einen Eindruck davon, dass Deutschland und Polen eine lange gemeinsame Geschichte haben, auch eine gemeinsame Geschichte von Migration und Austausch in beide Richtungen – beides sind alte Phänomene. Darüber hinaus erfahren die S*S, wie gegenseitige kulturelle Bereicherung durch transnationale Kontakte entsteht – sowohl in der Vergangenheit, als auch heute.
Der Unterricht stärkt die Kompetenzen der S*S im Hinblick auf das Verständnis zeitgenössischer Phänomene im Zusammenhang mit Migration und bietet die Möglichkeit, Schicksale von Einzelpersonen und kleinen Gruppen sowie die Folgen von Migration, die nach vielen Jahrhunderten sichtbar sind, zu beobachten und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Jugendlichen lernen die Ursachen vergangener Migrationen kennen, bewerten und analysieren die Leistungen der Migrant*innen, betrachten das materielle und immaterielle Erbe dieser Gruppen und lernen, dieses Erbe in der Kulturlandschaft der Region, des Landes und Europas wahrzunehmen. Der Unterricht bietet auch die Möglichkeit, über die Prozesse der Bereicherung ihrer Kultur durch die Migrant*innengruppen und die gegenseitige Interaktion zwischen ihnen und ihrem neuen kulturellen Umfeld nachzudenken. Sie werden sich mit Stereotypen, dem Integrationsprozess, Rassismus und Kosmopolitismus auseinandersetzen.
Während die S*S die beiden Geschichten wahrscheinlich zunächst als deutsch-polnische Migrationsbewegungen auffassen werden, zeigt ihnen ein Rückblick auf die deutsch-polnische Grenzgeschichte eine alternative Lesart auf. Dies regt sie möglicherweise auch in Zukunft stärker dazu an, historische Kontexte im Blick zu behalten.
Außerdem üben die S*S Fähigkeiten zur Informationssuche, zur Nutzung verschiedener historischer Quellen und zur Kombination von Wissen aus verschiedenen Quellen ein und entwickeln diese weiter (Förderung der historischen Kompetenz).
Didaktische Perspektive
Im Zentrum dieser Unterrichtseinheit steht die Besonderheit der vermeintlichen Einwanderung eines vermögenden polnischen Adeligen in das Königreich Preußen im 19. Jahrhundert und einer Gruppe nicht vermögender Bamberger Bauernfamilien in polnische Dörfer im 18. Jahrhundert. Im Gegensatz dazu konzentriert sich der aktuelle Diskurs über Migration vor allem auf die Einwanderung aus armen Ländern nach Deutschland. Diese Denkweise wird durch die Auseinandersetzung mit den Geschichten der vorgestellten Menschen hinterfragt. Der Zugang zu den Migrationsgeschichten wird mit Hilfe von unterschiedlichen Biografien geschaffen, um die Migrationsentscheidungen der Individuen einzeln zu betrachten und dann in ihrem historischen Kontext zu verorten. An verschiedenen Stellen können die S*S außerdem Bezüge zu der eigenen Familiengeschichte herstellen. Die einzelnen Geschichten verweisen an unterschiedlichen Stellen auf größere historische Zusammenhänge, die die S*S dafür sensibilisieren können, kritisch nachzufragen und auch regionale geschichtliche Ereignisse in ihre Interpretation mit einzubeziehen.
Flankiert werden die Geschichten von verschiedenen Beispielen, anhand derer sich S*S der Bedeutung von Migration, Integrationsprozessen und den Vorteilen des Zusammenkommens von Menschen unterschiedlicher Kulturen auseinandersetzen.
Die Unterrichtseinheit kann als Gesamtkonzept verstanden und unterrichtet werden. Sofern Migration bereits zuvor im Unterricht behandelt wurde, kann die Lehrkraft einzelne Teile überspringen. In der ersten Stunde wird beispielsweise zunächst allgemein in das Thema eingeführt. Es ist in jedem Fall aber empfehlenswert, die Stunden durchzugehen und zu prüfen, ob alle darin behandelten Aspekte bereits besprochen wurden oder zumindest einzelne Punkte daraus noch ergänzt werden, bevor eine Stunde ausgelassen wird.
Sie können auch die gesamte Materialsammlung zusammen mit dem kompletten Text dieser Unterrichtseinheit herunterladen.