Deutsch-polnische Migrationsgeschichten
Wie Athanasius Raczyński nach Berlin und Bamberger*innen nach Poznań kamen

Sachinformation
Worum geht es?
Die Unterrichtseinheit behandelt verschiedene Perspektiven auf das Thema Migration, um das Phänomen selbst zu normalisieren und mit Hilfe von deutsch-polnischen Migrationsgeschichten einerseits den Blick für historische Kontexte zu schärfen und gleichzeitig dazu anzuregen, vorhandene Stereotype zu hinterfragen und schließlich aufzulösen.
Die Unterrichtseinheit behandelt zum einen die Einwerbung und Ansiedlung von Bamberger*innen rund um die Stadt Poznań. Nach dem Großen Nordischen Krieg und der Pest waren die Stadt Poznań und vor allem die Dörfer um Poznań herum verlassen und verwüstet. Der Wohlstand der Stadt und der Region war dadurch sehr gefährdet. Die Stadt beschloss neue Einwohner*innen anzuwerben und bot ihnen dafür Land und steuerliche Vergünstigungen an. Es wurden aber nicht etwa Menschen aus den benachbarten Regionen angeworben, sondern Einwohner*innen der Stadt Bamberg und der Umgebung. Dort war die wirtschaftliche Situation vieler Menschen zunehmend schwierig. Überbevölkerung und rechtliche Vorgaben, nach denen nur die Erstgeborenen den Hof erben durften, führten dazu, dass sich viele Bamberger*innen (und Menschen aus der Umgebung) auf die Einladung aus Poznań einließen und in die umliegenden Dörfer von Poznań zogen. Die einzige Voraussetzung, die die Stadt Poznań den Einsiedler*innen stellt, ist, dass sie katholischen Glaubens sein und als Familien umsiedeln sollten. Es wurde davon ausgegangen, dass sich die Zuzügler*innen in der katholisch geprägten Region mit starker familiärer Bindung gut anpassen können. In den Jahren 1719 bis 1750 zogen ca. 80 Familien in drei Zeitscheiben in die Dörfer um Poznań herum, hierbei handelte es sich insgesamt um etwa 400 Menschen. Zu Beginn blieben die Bamberger*innen unter sich, nach etwa drei Generationen gingen sie vermehrt Mischehen ein und passten sich zunehmend der hiesigen Bevölkerung an. Bis heute sieht man Spuren der Bamberger Kultur in Großraum Poznań und der Woiwodschaft Großpolen – unter anderem in der Tracht, Sprache, Architektur und im Stadtbild von Poznań. Viele Bamberger Familien kamen zu Reichtum und zogen in die Stadt. Bis heute ist ihre Tradition lebendig.
Die zweite Geschichte, die in der Unterrichtseinheit vorgestellt wird, ist die Biografie des Grafen Athanasius Raczyński, der nach einem anfänglichen Plan, seine Sammlung in Poznań anzusiedeln, sich dazu entschloss, eine öffentlich zugängliche Kunstgalerie in Berlin zu errichten. Da er Diplomat werden wollte, erhoffte er sich in Berlin größere Chancen für seine Karriere. Angekommen in Berlin, kaufte er 1834 ein Palais in der Straße Unter den Linden, Nummer 21 und öffnete dort eine Gemäldegalerie – eine der ersten dieser Art –, in der er seine Sammlung von überwiegend italienischer Kunst frei zugänglich machte. Vorübergehend zog sogar die berühmte Künstlerin Bettina von Arnim über der Galerie ein. Nachdem König Wilhelm IV. ihm ein Stück Land im Zentrum Berlins zwischen dem Brandenburger Tor und der Spree geschenkt hatte, baute er dort ein Palais und zog mit seiner Gemäldegalerie dorthin. Im Palais stellte er dem Maler Peter von Cornelius ein Atelier zur Verfügung und beherbergte dort auch andere Malerateliers. Mit der Zeit wurde im Palais die Königliche Hochschule für Musik untergebracht, eine Vorgängerinstitution der heutigen Universität der Künste. Athanasius reiste als Diplomat durch Europa und blieb bis zu seinem Tod 1874 ein bedeutender Kunstmäzen. Nach seinem Tod verkaufte sein Sohn das Palais an den deutschen Staat, der das Gebäude zerstörte und innerhalb von wenigen Jahren exakt an der gleichen Stelle das Reichstagsgebäude errichtete. Die Gemäldesammlung wurde davor zunächst in die Nationalgalerie und später nach Poznań gebracht.
Die Unterrichtseinheit befasst sich im Kern mit zwei historischen Migrationsgeschichten über friedliche Koexistenz sowie über die gegenseitige Bereicherung der polnischen und deutschen Kultur und kann darüber hinaus ein Versuch sein, tief verwurzelte Stereotypen über die antagonistisch interpretierte Geschichte von Polen und Deutschland zu zerstreuen. Die Auseinandersetzung mit den zwei ausgewählten Beispielen sieht vor, das Erbe und den Beitrag von Raczyński und der Bamberger*innen zur gemeinsamen Vergangenheit Berlins und der Region rundum Poznań kennenzulernen.
Die Unterrichtseinheit gibt den Schüler*innen (S*S) die Möglichkeit, sich mit den allgemein gültigen und auch persönlichen Annahmen auseinanderzusetzen und diese zu hinterfragen. Bei einer vorläufigen Verortung Poznańs in Polen, was es zur Geburt von Athanasius Raczyński bis zu seinem sechsten Lebensjahr und der Zweiten Teilung Polens im Jahr 1793, in deren Folge es bis nach dem Ersten Weltkrieg zum Königreich Preußens gehörte, nehmen die S*S zunächst einen polnischen Adligen wahr, der nach Preußen einwanderte. Dies ist entgegen des stereotypen Bildes, dass eher ärmere Menschen in die finanziell bessergestellten deutschen Gebiete einwandern. Die Geschichte der Bamberger*innen ereignete sich noch vor den Teilungen Polens und war daher auch zu jener Zeit eine fränkisch-polnische Migrationsgeschichte, die dem oben erwähnten Stereotyp ebenfalls widerspricht.
Welche Materialien werden verwendet?
Im Rahmen der Unterrichtseinheit haben die S*S die Möglichkeit, sich mit vielleicht als atypisch angenommenen Beispielen der Migration zwischen Polen und Deutschland auseinanderzusetzen und ihre eigenen Stereotypen über Migration zu reflektieren. Zu Beginn machen sich die S*S mit Hilfe eines Videos (Material 1) mit dem allgemeinen Thema der Migration und den damit verbundenen Phänomenen vertraut. Im nächsten Teil lernen sie anhand von audiovisuellen Materialien (4 und 5), eines Sachtextes (Material 6) und einem Arbeitsblatt (Material 7) die Geschichte der Migration der deutschen Bevölkerung nach Polen im Mittelalter und im 19. Jahrhundert und der polnischen Bevölkerung vor allem ins Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert kennen. Nach diesen einführenden Stunden, in denen Migration als altes Phänomen und integraler Bestandteil der Geschichte dargestellt wird, informieren sich die S*S anhand von visuellen Impulsen (Materialien 8 und 14) und Arbeitsblättern (Materialien 9-13 und 15) über die Geschichte der Bewohner*innen des Bamberger Raums, die im 18. Jahrhundert in die Dörfer in der Nähe von Poznań kamen und einen großen Beitrag zum Wiederaufbau und zur Entwicklung der Stadt und ihrer Umgebung leisteten. Schließlich erfahren die S*S anhand eines Sachtextes (Material 16), eines Audios (Material 17), Zitaten (Material 20) und visuellen Quellen (Materialien 18 und 19), die geleitet durch ein Arbeitsblatt (Material 21) analysiert werden, etwas über den Grafen Athanasius Raczyński aus Großpolen, der im 19. Jahrhundert nach Berlin zog und dort, wo sich heute der Deutsche Reichstag befindet, eine öffentlich zugängliche Kunstgalerie gründete.
Material 1: Video – Why do people migrate?
Material 2: Quellensammlung – Ostkolonisation im Mittelalter
Material 3: Arbeitsblatt – Besiedlung im Mittelalter
Material 4: Video – Die Geschichte der Familie Weigle
Material 5: Audio – Die „Ruhrpolen“ – Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Material 6: Sachtext – Familie Jankowski – „Ruhrpolen“ in Herne
Material 7: Arbeitsblatt – Deutsch-polnische Migration im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Material 8: Impuls – Im Zentrum von Poznań
Material 9: Arbeitsblatt – Wie kamen die Bamberger*innen nach Poznań?
Material 10: Arbeitsblatt – Rechtliche, soziale und wirtschaftliche Fragen von Bamberger
Dörfern
Material 11: Arbeitsblatt – Die Kultur der Bamberger*innen
Material 12: Arbeitsblatt – Die Kleidung der Bamberger*innen
Material 13: Arbeitsblatt – Polonisierung der Bamberger*innen
Material 14: Impuls – Bamberger Spuren in der Architektur der Stadt Poznań
Material 15: Arbeitsblatt – Die Geschichte der Familie Leitgeber
Material 16: Sachtext – Wer war Athanasius Raczyński?
Material 17: Audio – Raczyński-Palais
Material 18: Visuelle Quellen – Raczyński-Palais mitten in Berlin
Material 19: Impuls – Raczyńskis Grab in Berlin
Material 20: Zitate – Raczyńskis Ansichten
Material 21: Arbeitsblatt – Athanasius Raczyński zwischen den Welten
Weiterführende Literatur
Bingen, Dieter, Andrzej Kaluza, Basil Kerski und Peter Oliver Loew. Polnische Spuren in Deutschland: Ein Lesebuchlexikon, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2018.
Ilski, Kazimierz. Obrazy migracji [Bilder der Migration], Poznań: Instytut Historii UAM, 2010.
Labuda, Adam S., Michał Mencfel und Wojciech Suchocki (Hg.). Edward i Atanazy Raczyńscy: dzieła - osobowości - wybory – epoka / Edward und Atanazy Raczyński: Werke - Persönlichkeiten - Bekenntnisse – Epoche / Edward and Atanazy Raczyński: Works - Personalities - Choises – Era, Poznań: Muzeum Narodowe, 2010.
Mencfel, Michał. Atanazy Raczyński (1788-1874): Biografia [Athanasius Raczyński (1788-1874). Biographie], Poznań: Wydawnictwo Naukowe UAM, 2016.
Paradowska, Maria. Bambrzy: mieszkańcy dawnych wsi miasta Poznania [Bambrzy: Bewohner der ehemaliger Dörfer der Stadt Poznań], Poznań: Media Rodzina of Poznań, 1998.
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Kontakt: zwischentoene@leibniz-gei.de
Autorin: Katarzyna Jez
Didaktikerin: Wiesława Araszkiewicz
Redaktion: Dr. Imke Rath
Fachliche Beratung: Prof. Dr. Riem Spielhaus
Gutachter: Volker Habermaier
Cover-Illustration: Soufeina Hamed
Erstveröffentlichung: 2025
Dieses Unterrichtskonzept wurde im Rahmen des Projektes „Vielfaltsgeschichten aus der Ukraine, Polen und der Türkei: Lokalgeschichte als didaktischer Zugang für das historische Lernen“ entwickelt, das vom Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut durchgeführt wurde.
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