Widerstand gegen das NS-Regime

Die Geschichte von Heschel Grynszpan und seiner polnisch-jüdischen Familie

Sprache: Deutsch
Von: Katarzyna Jez
Didaktisierung: Dr. Stephan Theilig
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Sachinformation

Worum geht es?

Die Unterrichtseinheit befasst sich mit jüdischem Widerstand im Nationalsozialismus, um die üblichen Darstellungen, die Jüd*innen vor allem in der Rolle der Opfer zeigen, zu ergänzen. Im Zentrum steht hier das durch Herschel Grynszpan verübte Attentat an einem Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Paris, das von den Nationalsozialist*innen als Anlass zu den Novemberpogromen (auch als Reichskristallnacht bekannt) herangezogen wurde. Dieses steht im Zusammenhang mit der Geschichte der polnisch-jüdischen Familie Gryn­szpan.

Sendel (Zendel) und Ryfka (Rywka) Grynszpan leben an der Wende zum 20. Jahrhundert in Radomsko (damals in Kongresspolen)[1]. Das Paar heiratete und zog 1911 nach Hannover. Dort eröffnete Sendel eine kleine Schneiderei. Grynszpans bekamen mehrere Kinder, von denen nur drei die frühe Kindheit überlebten. In Hannover kam auch Herschel (Hermann) als jüngstes Kind der Grynszpans zur Welt.

Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens 1918 erhielten die Grynszpans die polnische Staatsbürgerschaft, obwohl sie bereits einige Jahre im Deutschen Reich gelebt hatten.

Nachdem Herschel als 14-jähriger die Schule abgebrochen hatte, beschlossen seine Eltern, ihn in das britische Mandatsgebiet Palästina zu schicken. Da er aber dafür noch zu jung war, entschieden sich seine Eltern um und er kam zu einem Onkel nach Belgien. Dort blieb er nicht lange, denn bald nach seiner Ankunft wanderte er illegal in Frankreich ein und landete schließlich in Paris, wo er bei seinem Onkel Abraham und Tante Chawa Grynszpan unterkam. In Paris versucht er zwei Jahre lang vergeblich eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Auch seine Versuche, nach Hannover zurückzukehren, scheiterten aufgrund fehlender Reise­erlaubnis des Hanno­ver­schen Polizeipräsidenten.

In Paris erreicht Herschel Anfang November 1938 die Nachricht von seiner Schwester Beile (Berta) über die Deportation seiner Familie aus Hannover im Rahmen der sogenannten Polenaktion an die polnische Grenze nach Neu Bentschen (Zbąszynek), wo sie von Polen zurückgewiesen wurden und sich gewissermaßen im Niemandsland aufhalten mussten.[2] Völlig verzweifelt wegen der Lage seiner Familie und in Ermangelung von Möglichkeiten, sie finanziell zu unterstützen, sucht Herschel am 7. November 1938 die deutsche Botschaft in Paris auf, wo er verlangt, einen Botschaftssekretär zu sprechen. Als Herschel zu Ernst vom Rath vorgelassen wird, schießt er auf diesen. Vom Rath wird mit seinen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht und Herschel in Gewahrsam genommen. Am 9. November stirbt vom Rath, was Hitler als Anlass nimmt, die Pogromnacht gegen Jüd*innen im Deutschen Reich zu begründen und durchzuführen. Grynszpan gesteht bei seiner Vernehmung u.a., Ernst vom Rath aus der Pariser Schwulenszene bereits gekannt zu haben, was er danach jedoch widerruft. So entgeht er vermutlich einem Prozess, der zunächst auf eine spätere Zeit verschoben wird. Die Spur von Herschel Grynszpan verliert sich 1942. Sein Schicksal ist bis heute unbekannt. Ein Foto aus den Beständen des Jüdischen Museums in Wien, das ihn mutmaßlich nach dem Krieg in Süddeutschland zeigt, entfachte in den letzten Jahren neue Spekulationen über sein Schicksal.

Die Geschichte von Herschel Grynszpan zeigt einen Jugendlichen, der verwickelt in die Geschichte der Diskriminierung von Jüd*innen und des Widerstands als tragischer und kontroverser „Held“ diskutiert werden kann. Die S*S können sich vielleicht mit Herschel, der zum Zeitpunkt des Attentats noch minderjährig war, identifizieren oder haben zumindest einen leichteren Zugang zu seiner Gedankenwelt. Seine Tat kann als Akt des aktiven, jüdischen Widerstands gegen die Diskriminierung und Verfolgung von Jüd*innen durch das NS-Regime, aber auch gegen die diskriminierende Behandlung eigener Staatsbürger*innen durch die polnische Regierung betrachtet werden. Das Attentat als Mittel des Widerstands bietet eine gute Vorlage für eine kontroverse Diskussion über die Prämisse, ob „das Ziel die Mittel heiligt“. Da Herschel sowohl vom NS-Regime, als auch von der jüdischen Community als Verursacher der Novemberpogrome gleichermaßen abgelehnt wurde, ereilt ihn für seine Tat ein unrühm­liches, tragisches Schicksal. Das Thema der Abschiebung von bestimmten Menschengruppen hat seit damals nicht an der Aktualität eingebüßt und kann um aktuelle Gegenwartsbezüge erweitert werden – z. B. die Situation von Flüchtlingen im Mittelmeer, an der polnisch-belarus­sischen Grenze oder der Rohingya in Bangladesch und Myanmar.

Ergänzend thematisiert der erste Exkurs die Rolle der 15-jährigen jüdischen Gefangenen Anna Heilman. Anna, geborene Hana Wajcblum (1928-2011), entstammte einer jüdisch-pol­ni­schen Familie. Im KZ Auschwitz-Birkenau spielte sie 1944 eine aktive Rolle im bewaffneten Aufstand des Häftlings-Sonderkommandos in den Krematorien III und IV. Sie war dabei mit verant­wortlich für das Beschaffen von Schwarzpulver, das zum Bau von Granaten genutzt wurde, um das Krematorium zu sprengen. Ihre Schwester, Ester Wajcblum, war ebenfalls am Auf­stand beteiligt und wurde am 6. Januar 1945 in Auschwitz hingerichtet. Anna überlebte Auschwitz und siedelte nach dem Krieg nach Kanada über, wo sie ihre Erlebnisse dokumen­tierte und weitergab.

Der zweite Exkurs thematisiert die jüdisch-polnische Untergrundorganisation Żegota [ʒɛ‘gota]. Żegota, offiziell „Rat für die Hilfe an Juden“, war eine geheime polnische Wider­stands­organisation während des Zweiten Weltkriegs. Gegründet 1942 in Warschau, diente sie als Hauptinstrument der polnischen Untergrundregierung, um Jüd*innen vor dem Holo­caust zu retten. Trotz des Risikos der Todesstrafe für die Unterstützung von Jüd*innen in besetzten Gebieten koordinierte Żegota Unterkünfte, medizinische Versorgung und finan­zielle Unter­stützung. Für Żegota aktiv war auch die Polin Irena Sendler (1910-2008), die Hunderte von jüdischen Kindern aus dem Warschauer Ghetto rettete. Ähnlich geartet ist die Geschichte von Wladyslawa Choms (1891-1966), die auch „Engel von Lviv“ genannt wurde, weil sie nach der deutschen Besetzung Lvivs 1941 einen Hilfsfonds für bedürftige Jüd*innen gründete und Unterstützung, inklusive falscher Identitäten und Verstecken organisierte. Sie betreute mehr als 60 jüdische Kinder und half ihnen zu überleben.

 

Welche Materialien werden verwendet?

In diesem Unterrichtsentwurf wird darauf verzichtet, ein Bild oder Video für den Einstieg in die Themensequenz vorzuschlagen, da die Lehrkraft die Lerngruppe am besten einschätzen kann, welches Medium mit welchem dargestellten Thema besser geeignet ist und die jeweilige Lerngruppe anspricht.

Die darauffolgende Kombination von Sachtexten (Materialien 1-3, 10, 17, 21-23) und Originalquellen (Materialien 4, 5, 11-13 und 18) insbesondere von Zeitzeug*innenaussagen, ermög­licht es den Lernenden, Analysefähigkeiten zu entwickeln, indem sie Informationen kritisch bewerten und verschiedene Perspektiven abwägen. Arbeitsblätter (Materialien 6-8, 14, 15, 24 und 25) unterstützen sie mit den entsprechenden Arbeitsaufträgen dabei, den Inhalt von Texten pointiert zu erschließen. Dies vermittelt ein vielschichtiges Bild des Widerstands und fördert ein historisches Bewusstsein, das die Komplexität der damaligen Ereignisse berück­sichtigt. So entsteht eine fundierte und empathische Sichtweise, die für das Verständnis der Zusammenhänge uner­lässlich ist. Videos (Materialien 9 und 19) liefern an einigen Stellen Originaltöne, um den S*S einen tiefergehenden Einblick zu verschaffen.

Insbesondere wurde auf Materialien von Yad Vashem sowie dem United States Holocaust Memorial Museum zurückgegriffen, wenn es um biografische Hintergründe und Interviews geht. Der abschließende zusammenfassende Blick auf das Thema „(jüdischer) Widerstand“ basiert auf den Texten und Perspektiven aus dem deutsch-polnischen Lehrbuch „Europa – Unsere Geschichte“, das eine übernationale Geschichtsbetrachtung bietet. Teil­weise wurden die Texte gekürzt, was der Anpassung an die Zeitvorgaben im Unterricht geschuldet ist. Gleichsam ist es möglich, die vorgeschlagenen Stunden entweder alle zusammen als Sequenz, oder aber einzeln oder in Kombination miteinander zu nutzen.

 

[1] Als Kongresspolen bezeichnet man das konstitutionelle Königreich Polen, das im Jahr 1815 auf dem Wiener Kongress gegründet wurde und mit der Zeit unter die Herrschaft des Russischen Reichs geriet.

[2] Zu den Deportierten gehörte unter anderem der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920–2013). Nach der sogenannten „Polenaktion“ kam er nach Warschau, wo er dann während des Krieges in das Warschauer Ghetto zwangsumgesiedelt wurde. Neben ihm wurden u.a. auch drei spätere Mitglieder der Gruppe „Oneg Schabbat“ ausgewiesen. Sie haben während des Krieges ein Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto aufgebaut, um das jüdische Leben angesichts der drohenden Vernichtung für die Nachwelt zu dokumentieren – Yitzhak Giterman (1889–1943), Emanuel Ringelblum (1900–1944) und Rachel Auerbach (1903–1976). Auch Reich-Ranicki war heimlich für das Untergrundarchiv tätig.